Warum diese Frau als freie Radikale der klassischen Musik gilt

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NZZ Magazin – Anna Kardos

Patricia Kopatchinskaja hasst Komfortzonen. Die Geigerin schafft es wie niemand sonst, das Publikum mit klassischer Musik durchzurütteln.

Man kann es als Systemfehler der klassischen Musik bezeichnen, dass Patricia Kopatchinskaja eine ihrer erfolgreichsten Vertreterinnen geworden ist. Denn was hat eine Musikerin, die das Imitieren von grossen Vorbildern genauso ablehnt wie unhinterfragte Traditionen, zu tun mit einem System, das von historischen Werken, ikonischen Interpretationen und einem traditionellen Konzertritual lebt? Oder wie es Patricia Kopatchinskaja sagt: «Ein klassisches Konzert ist heute wie ein Mausoleum.

Man geht diese Leiche anschauen, sie soll würdig daliegen, sich möglichst nicht bewegen. Mich langweilt das zu Tode. Wie schlimm muss es für das Publikum sein?»

Als Patricia Kopatchinskaja sich 1991 in diesem System wiederfand, war sie 14 Jahre alt, rasend begabt und ebenso eigenwillig. Sie war in der Moldau mehrheitlich bei der Grossmutter auf dem Land aufgewachsen, wo nicht viel los war. Aber es gab Geräusche. Stundenlang hörte das Mädchen den Klängen und dem Rhythmus der Regentropfen zu und genauso oft auch ihrem Vater, einem Hackbrettvirtuosen, der mit seiner Volksmusikgruppe die Länder der Sowjetunion bereiste.

Das System der klassischen Musik war in höchster Alarmbereitschaft.

Das war der Humus, aus dem sich Kopatchinskajas Spiel nährte – und vieles davon war zu hören, als sie 2001 den «Credit Suisse Young Artist Award» gewann, barfuss, mit Beethovens Violinkonzert und einer Kadenz für Geige und Pauke, die sie selber komponiert hatte. Der Klassikwelt stockte der Atem. Jener von Kopatchinskaja stockte nicht. Für sie war es selbstverständlich, dass man Beethoven noch nie so gehört hatte. So ungewohnt, so lebendig und mit so vielen rauen Tönen. Nur die Aufregung über ihre nackten Füsse konnte sie nicht verstehen.

Das System der klassischen Musik war in höchster Alarmbereitschaft. Kopatchinskaja sitzt im Schneidersitz auf einem Ikea-Sessel in ihrer Berner Wohnung und erinnert sich: «Intendanten, Dirigenten, Musiker sagten: So geht das nicht! Manchmal kamen Orchestermusiker zu mir und fragten: Wissen Sie, wie Oistrach (einer der grössten Geiger des 20. Jh., Anm. der Red.) das gespielt hat? Darauf hatte ich nur eine Antwort: Warum denken Sie, ich will es so spielen wie er?»

Kunst als unbedingte Ehrlichkeit

Heute, 21 Jahre später, spielt sie noch immer anders als alle anderen, auch anders als sie selbst an einem anderen Tag – und manchmal spielt sie nicht einmal mehr Geige, sondern stattdessen grosse Trommel oder halb gefüllte Wassergläser, oder sie schleudert ihrem Publikum in schwindelerregendem Tempo die Nonsens-Laute aus Kurt Schwitters’ «Ursonate» um die Ohren – einmal auch um jene von Regiealtmeister Herbert Fritsch. Was dazu führte, dass die beiden ab Dezember am Theater Basel gemeinsam ein Musiktheater erarbeiten. «Wir beginnen mit einer Tabula rasa. Ich habe keine Ahnung, was da auf mich zukommt», sagt die Musikerin.

Es ist wichtig, dass alles demaskiert ist, was auf die Bühne kommt. Dass wir uns verletzlich machen, in Gefahr stürzen.

Bei Patricia Kopatchinskaja kommt Kunst nicht nur von Können, sondern vor allem von unbedingter Ehrlichkeit. In Beethovens «Kreutzersonate», das in Tolstois gleichnamigem Ehedrama zum Katalysator der Ehekatastrophe wird, taumelt die Musik geradezu unter ihren Händen und jenen des Pianisten Fazil Say. Jeder Akkord wird zu einem Aufschrei, die schnellen Läufe zum Keuchen eines Rasenden. Und dann, ganz plötzlich, verwandelt sich mit dem Übergang von einem einzigen Ton zum nächsten die bodenlose Verzweiflung in sanften Trost. Wie macht sie das?

«Alles, was mich auf eine vorgegebene Bahn bringt, breche ich sofort ab. Ich muss den Pfad neu finden – gegen alle Widerstände und zu Fuss», sagt sie. Und: «Es ist wichtig, dass alles demaskiert ist, was auf die Bühne kommt. Dass wir uns verletzlich machen, in Gefahr stürzen». Auf die Frage, weshalb das so wenige andere klassische Musikerinnen tun, sagt sie: «Die meisten haben grosse Angst. Sie brauchen Routine.»

Auch bei ihr geht ab und zu etwas schief. Es folgen schlaflose Nächte – und trotzdem: «Es ist ganz wichtig, Fehler zu machen», so Kopatchinskaja. «Das sind meine Lieblingsmomente. Weil da so viel Unplanbares passiert. Es kommt Panik auf, aber in dieser Panik wächst auch ein Überlebenstrieb, eine grosse Kraft.»

Diese Lust am Wagemut ist es wohl, die ihr schon immer zu einer Freiheit verhalf, wie sie klassische Musiker kaum haben. Und mit zunehmendem Alter ist Kopatchinskaja nicht nur freier, sondern auch radikaler geworden. Heute kann man sie als die freie Radikale der klassischen Musik bezeichnen.

Tatsächlich krankt die klassische Musik seit über einem Jahrhundert daran, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt.

Auch ihre Konzerte werden radikaler, etwa kommende Woche ihr Ligeti-Programm: «Bei ihm taucht in verschiedenen Stücken immer die gleiche Melodie auf, wie eine fixe Idee. Dieser Obsession wollte ich nachgehen. Vielleicht wird man beim Zuhören auch verrückt – und das ist gut so.» Oder sie inszeniert Musik szenisch, neben Schwitters’ «Ursonate» auch «Dies Irae», ein Programm mit Kriegs- und Chormusik aus Barock und Gegenwart, in dessen Zentrum das Ende der Welt steht. Auf die Frage, ob Musik allein nicht mehr genug sei für das Publikum, antwortet Kopatchinskaja: «Nicht die Musik ist nicht genug, sondern es ist nicht genug, was wir machen.»

Tatsächlich krankt die klassische Musik seit über einem Jahrhundert daran, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt. Wenn Schumann oder Beethoven ihr Publikum einst erschütterten, hört man heute dieselben Werke anders, weiss, wie sie klingen – und was einen erwartet. Für Patricia Kopatchinskaja geht es darum, die Erschütterung von damals im Heute spürbar zu machen.

In ihrem szenischen Konzert «Krieg & Chips» flimmern Bilder von zerstörten syrischen Städten über eine Grossleinwand, dazu schwelen in regelmässigen Abständen tiefe Töne der Streicher, als würde hier etwas stöhnen, das grösser ist als ein Mensch. Vor der Leinwand sitzt auf einem Sofa ein Schauspieler und futtert ungerührt eine Familienpackung Chips.

Ich bin die grösste Sünderin

«Musik muss uns aus der Bahn werfen. Man muss mit einer anderen Einsicht aus dem Konzert kommen», so Kopatchinskaja. «Auch ich gehe oft nicht mehr als Musikerin auf die Bühne, sondern als Mensch, als Mutter, als Bewohnerin dieses Planeten, den wir zerstören.» Und es gehört zu ihrer unbedingten Ehrlichkeit, dass sie sich aus diesem «wir» nicht ausnimmt: «Ich bin die grösste Sünderin», sagt sie, obwohl sie kein Auto besitzt und nur ein- bis zweimal jährlich auf einen anderen Kontinent fliegt – für Solisten mit internationaler Karriere undenkbar.

Anfangs war es das auch für Kopatchinskajas Agentur. «Es war ein Schock, als ich sagte, ich mache es nur so oder gar nicht. Aber dann begann sie mitzudenken.» Wenn Kopatchinskaja heute in die USA reist, bleibt sie dort für Wochen statt Tage, spielt mehrere Konzerte, tritt mit Kammermusik auf, gibt einen Meisterkurs. «Klimaschutz ist nicht unmöglich, es ist eine Entscheidung. Aber man muss den herrschenden Exklusivitätsanspruch mit dem ‹einzigen Konzert des Jahres› aufgeben», sagt die Musikerin, für die alles mit allem zusammenhängt. Kunst mit Klima. Leben mit Politik. Und vor allem: Musik mit dem Menschsein.

Klassik als kalte Dusche

Tatsächlich schafft es kaum eine andere Kunst, uns Menschen so zu berühren wie die Musik: so unmittelbar, so unbewusst und manchmal auch so unkontrollierbar. Und hier eröffnet ausgerechnet das System der Klassik, dem Kopatchinskaja so kritisch gegenübersteht, der Geigerin neue Möglichkeiten, Menschen zu erschüttern: «Sogar in einem Theater ist man mehr vorbereitet auf das Unerwartete, man hat schon nackte Schauspieler, Fäkalien, Sex gesehen.»

In einem Konzertsaal gelten andere Erwartungen: «Man bucht sich einen Platz wie in einem Wellness-Spa, um diese schönen Töne über sich ergehen zu lassen, als wären sie eine warme Dusche. Je berühmter der Masseur, desto teurer ist der Eintritt.» Wenn Patricia Kopatchinskaja auf der Bühne steht, kann aus der warmen Dusche plötzlich auch eine kalte werden. Dafür wird man musikalisch durchgeschüttelt von etwas, was noch nie da war und nie mehr da sein wird.

Der Artikel von Anna Kardos

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