Sonntagszeitung – Was bedeutet Ethik in der Milchwirtschaft? Wie führt man ein Unternehmen mit über 10’000 Angestellten? Emmi-Chefin Ricarda Demarmels im grossen Interview.
Ricarda Demarmels ist eine der wenigen Schweizer Frauen, die einen Milliardenkonzern führt. Bei Emmi setzt die 44-Jährige den Expansionskurs fort: vor allem in Südamerika wächst der Schweizer Milchproduzent.
Zudem hat er kürzlich Mademoiselle Desserts übernommen, eine französische Patisserie-Gruppe mit 2000 Angestellten.
Frau Demarmels, Emmi hat 57 Produktionsstätten in 11 Ländern. Wo schmeckt die Milch am besten?
Je nach Fütterung und Rasse erhält die Milch tatsächlich einen anderen Geschmack. Doch unsere Milch schmeckt mir überall auf der Welt.
Das ist eine etwas gar diplomatische Antwort. Viele meinen doch, die Schweizer Milch sei die beste, oder nicht?
Die Schweiz hat eine hervorragende Milch – dank der tierfreundlichen Haltung und weil die Kühe viel Gras, Klee und Blumen fressen.
Emmi wächst im Ausland – vor allem in Brasilien. Was fressen denn brasilianische Kühe?
Sie fressen Weidegras und je nachdem zusätzliches Futter. Auf jeden Fall kein Schweizer Gras.
Brasilien ist zu einem wichtigen Markt geworden. Warum?
Brasilien ist der grösste Markt für Milchprodukte in Lateinamerika. Wir sind dort seit 2014 über eine Minderheitsbeteiligung an der Firma Laticínios Porto Alegre Indústria e Comércio S.A. tätig, 2019 haben wir die Mehrheit übernommen. Dieses Jahr haben wir einen weiteren Schritt gemacht und die Firma Campo Verde gekauft – eine starke Marke, die sich vor allem auf Premium-Milchprodukte im funktionalen Bereich konzentriert. Sie produziert beispielsweise Proteindrinks mit Whey, einem hochwertigen Protein. Während wir bis anhin stärker im Bundesstaat Minas Gerais tätig waren, ist Verde Campo stark in urbanen Metropolen wie São Paulo und Rio de Janeiro.
In Brasilien ist Übergewicht ein grosses Problem. Ihre Proteindrinks richten sich aber eher an gesundheitsbewusste Konsumenten, richtig?
Das riesige Land ist unglaublich kontrastreich. Der Unterschied innerhalb der Bevölkerung ist grösser als bei uns. Die Produkte von Verde Campo richten sich an ernährungsbewusste Konsumentinnen und Konsumenten, die bereit sind, dafür etwas zu bezahlen. Sie werden primär von Ernährungsberatern empfohlen, sei es für eine proteinreiche Ernährung oder für eine gesundheitsbewusste Ernährung.
In der Schweiz hingegen ist der Markt zunehmend gesättigt. Müssen Sie Mickymäuse auf Verpackungen drucken, damit Schweizerinnen und Schweizer noch Milch trinken?
Nein, das muss man nicht. Grundsätzlich wächst der Milchkonsum international um 1 bis 2 Prozent, in der Schweiz ist er tendenziell stabil. In unserem Land hat sich der Milchkonsum über viele Jahrhunderte etabliert, das Sortiment ist laufend grösser geworden. Kalte Kaffeegetränke, Joghurts mit besonders viel Protein, naturbelassene Produkte sowie solche mit Bio-Standard oder Dessertkreationen: Für jeden Geschmack gibt es etwas. Aber grundsätzlich ist es so, dass Herr und Frau Schweizer sehr gerne Milchprodukte konsumieren. Das ist auch wichtig. Es gibt kein Nahrungsmittel, das kompletter ist als Milch. Das sieht man, wenn man sich das ernährungsphysiologische Profil anschaut.
Die Bevölkerung wächst, da müsste auch der Milchkonsum steigen.
Grundsätzlich ist der Konsum stabil, und sicherlich hat es im Milchregal über die letzten 10 bis 15 Jahre Verschiebungen gegeben. Man trinkt weniger Milch, konsumiert sie aber in anderer Form. Heutzutage kaufen die Leute weniger klassische Trinkmilch, essen aber mehr Käse und trinken Milchmischgetränke. Zudem wird weniger Joghurt, dafür mehr Quark gegessen.
Schweizweit verarbeitet Emmi 900 Millionen Kilo Milch pro Jahr zu Käse, Joghurt, Butter oder Rahm. Das können Sie nur, weil Tausenden Kühen ihre Kälber weggenommen werden und sie darum zu Milchkühen werden. Überlegen Sie sich, wie ethisch diese Praxis ist, oder stellt man sich diese Frage nicht?
In unserer Gesellschaft hat der Milchkonsum eine sehr lange Tradition. Schon die alten Römer stellten Käse her, im Mittelalter die Klöster – dann wurde Käse zu einem Handelsgut. Es hat sich etabliert, damit wir Menschen uns versorgen können. In der Schweiz sind 80 Prozent der Agrarfläche nicht ackerbaufähiges Grasland. Wir Menschen müssen dieses nutzen, um uns zu ernähren und zu versorgen.
Das heisst, Sie haben keine Bedenken?
Wichtig ist, dass man alles, was man im Leben tut, mit Respekt gegenüber Natur und Mensch macht. Die Schweiz hat eines der strengsten Tierschutzgesetze der Welt. Wir als Emmi haben bei der Etablierung des Branchenstandards «Nachhaltige Schweizer Milch» aktiv dazu beigetragen, der seit diesem Jahr schweizweit verbindlich ist.
Milchproduktion in diesem Volumen ist nur möglich, wenn man den Kühen ihre Kälber sofort nach der Geburt wegnimmt. Müssen wir damit einfach leben?
Die Höfe, von denen Emmi ihre Milch bezieht, machen keine industrielle Milchproduktion, wie das in anderen Ländern der Fall ist. In der Schweiz beziehen wir unsere Milch von rund 6000 Lieferanten mit kleinen bis mittelgrossen Höfen. Hier stehen familiäre Strukturen dahinter. In anderen Ländern, etwa Tunesien oder Brasilien, ist das sehr oft ein Nebenerwerb mit zwei oder drei Kühen pro Milchlieferant.
Sie idealisieren das Bild der Milchproduktion. Auch in der Schweiz werden die Betriebe grösser – Bauern können nur überleben in Betriebszusammenschlüssen und mit laufend grösseren Ställen für mehr Kühe.
Wir nehmen Sie gerne einmal mit auf eine Tour zu unseren Lieferanten. Sie werden sehen, dass es kleine Betriebe sind. In den Niederlanden, in Deutschland oder in den USA haben sie ganz andere Dimensionen.
Milch aus Mutter-Kalb-Haltung zu lancieren, wie es einige Grossverteiler prüfen, ist also keine Option für Emmi?
Nein, das ist kein so grosses Kundenbedürfnis, als dass wir genügend Abnehmerinnen und Abnehmer finden würden. Aktuell gibt es 30 bis 40 Betriebe in der Schweiz mit Mutter-Kalb-Haltung. Wir kaufen und verarbeiten ein Viertel dieser Milch. Doch wir haben kein Produkt, das nur aus dieser Milch hergestellt wird. Wir sehen aktuell kein entsprechendes Bedürfnis. Sollte sich das ändern und würden genügend Konsumentinnen und Konsumenten den nötigen Aufschlag bezahlen, würden wir uns das nochmals anschauen.
Beim Hafermilch-Trend haben Sie investiert und die Marke «Beleaf» lanciert. Wie gut laufen diese Produkte?
Pflanzenbasierte Produkte wachsen weltweit nach wie vor. Jedoch verlangsamt sich jetzt das Wachstum. Barrieren sind der höhere Preis und das Geschmackserlebnis. Zudem realisieren viele Menschen allmählich, dass der ernährungsphysiologische Wert pflanzenbasierter Alternativen geringer ist als bei konventionellen Kuhmilchprodukten, die mehr verfügbare Proteine, Kalzium und Vitamine haben.
Emmi ist in 14 Ländern tätig. Wie häufig sind Sie unterwegs?
Sehr häufig. Ich bin etwa 80 Prozent meiner Zeit unterwegs, um unsere Tochterunternehmen, Kunden und Lieferanten zu besuchen. Für mich ist der Eindruck vor Ort und der Kontakt zu den Managementteams sehr wichtig. Ich lerne unglaublich viel, wenn ich zum Beispiel sehe, wie sich etwa in Brasilien, Chile oder den USA die Bestückung der Milchregale und damit der Konsum verändert. Dieses Wissen hilft mir, die richtigen Fragen zu stellen und Zukunftsentscheidungen zu treffen. Denn es ist Teil meiner Aufgabe, sicherzustellen, dass wir unser Portfolio stetig weiterentwickeln und Emmi für die nächsten 10 bis 20 Jahre richtig aufstellen.
Was fällt Ihnen auf, wenn Sie in Brasilien sind?
Die Gastfreundschaft dort ist unglaublich. Von der brasilianischen Lebensfreude könnten wir Schweizerinnen und Schweizer uns ein Stück abschneiden. In unseren Betrieben fällt mir ein ganz grossartiges Unternehmertum auf. Die Mitarbeitenden gehen extrem gut mit Unvorhergesehenem um und ziehen daraus mit Ruhe und einem Lachen Chancen.
Was hat Emmi von den Brasilianern gelernt?
Eine hohe Aussenorientierung, schnelle Entscheidungen und starke Vernetzung über strategische Partnerschaften. Da sind sie einen Schritt voraus.
Wie wird die Schweiz dort wahrgenommen?
Sehr positiv. Die Schweiz steht für Qualität und Verlässlichkeit sowie für Innovationsgeist und Tradition. Ich werde oft auf unsere einzigartige Berufsbildung angesprochen.
Gibt es die meisten Emmi-Produkte auch im Ausland?
Nein, unsere Tochterfirmen produzieren die Produkte möglichst vor Ort und entsprechend den lokalen Bedürfnissen. Doch jedes Land durchläuft ähnliche Entwicklungskurven im Konsum. Daher können wir gewisse Erfolgsgeschichten im Ausland wiederholen: Zum Beispiel mit Emmi Caffè Latte und Joghurt-Pur, das in adaptierter Form sogar den Sprung nach Brasilien geschafft hat. Aktuell versuchen wir das Gleiche mit den Trinkmahlzeiten «I’m your meal», die nun bald auch in Europa erhältlich sein werden.
Im Sommer haben Sie für fast eine Milliarde Euro eine weitere Dessert-Marke gekauft. Was macht Sie sicher, dass sich diese Akquisition lohnt?
Wir sind überzeugt, dass diese Akquisition erfolgreich sein wird. Wir sind seit über zehn Jahren im Dessertgeschäft tätig und kennen den Markt sehr gut. Das Portfolio der französischen Mademoiselle-Desserts-Gruppe komplementiert unser bestehendes, vor allem italienisch inspirierte Sortiment wie beispielsweise Tiramisù und Torta della Nonna, das aktuell 9 Prozent vom Gesamtumsatz ausmacht.
Was braucht es, um gute Entscheide von so grosser Tragweite fällen zu können?
Ich stelle mir jeweils die Frage, ob ich im Entscheidungsprozess alles gemacht habe, was ich machen kann, und auf diesem Weg gut zugehört habe. Auch ausserhalb des Unternehmens gibt es relevante Puzzleteile, die für Entscheidungen wesentlich sind. Entscheide müssen mit Klarheit gefällt werden, und dann muss man ruhig und bewusst beobachten, wie sich die Dinge entwickeln, und reflektiert nachjustieren.
Wie machen Sie das genau?
Gute Führung beginnt zuerst in der Führung von einem selbst und danach mit der Führung von Menschen, Teams und Organisationen. Ich glaube, man ist, was man isst. Ich versuche über gute Ernährung, viel Schlaf und Ruhe im Sport – ich gehe regelmässig Schwimmen – in guter Verfassung zu sein, um richtige Entscheide zu fällen. Auch wenn man eine gesunde Demut hat und zuhören kann, trifft man tendenziell die besseren Entscheidungen.
Als Chefin von Emmi leiten Sie einen 4-Milliarden-Konzern, Sie reisen viel und haben zwei Töchter. War es für Sie immer selbstverständlich, dass man Familie und Karriere vereinbaren kann?
Meine Eltern haben immer beide gearbeitet. Für mich war das nie ein Thema. Auch Rollenbilder waren nie ein Thema. Meine Eltern haben sich gegenseitig unterstützt. Am Anfang hat mein Vater mehr gearbeitet als meine Mutter. Und später hat sich meine Mutter selbstständig gemacht und mein Vater ist bewusst kürzergetreten, um meiner Mutter das auch zu ermöglichen.
Wie machen Sie es heute bei Ihrer eigenen Familie?
Mein Ehemann schaut zu unseren Kindern. Man sagt ja, es brauche ein ganzes Dorf, um Kinder aufzuziehen. Wir organisieren uns gemeinsam und erhalten Unterstützung von unserem Umfeld.
Was für Vorbilder hatten Sie als Kind?
Ich war nie jemand, der als Kind starke Vorbilder gesucht hat. Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Einmal in der Woche haben wir uns in der Bibliothek im nächsten Dorf Bücher ausgesucht. Ich habe als Kind sehr viel gelesen und in diesen Kinderbüchern meine Helden gefunden und meine Träume über das Tal hinaus geträumt. Mein Lieblingsbuch war «Eddie, der schwarze Rabe» mit den Helden Eddie und Steve, «Blitz» mit dem mutigen Jungen Kirk und natürlich «TKKG». Ich habe alle Kinderbücher in einer Schachtel und freue mich, sie meinen Kindern zu geben, sobald sie so weit sind.
Noch immer gibt es wenige Frauen in den Teppichetagen. An welchen Vorbildern orientieren Sie sich heute?
Ich bin der Überzeugung, dass ich von allen lernen kann. Ob Mann oder Frau, ob jung oder alt, egal, welche Position er oder sie hat, ich höre zu und nehme immer etwas für mich mit. Ich habe mich nie beirren lassen, wie die Leute aussehen, die um einen Tisch sitzen. Ich war immer der Überzeugung, dass jeder, der seinen Beitrag leistet und gut ist, auch weiterkommt.
Wie meinen Sie das?
Wenn man sich im Leben einsetzt, zahlt sich das auch aus. Wir alle haben eine Verantwortung im Leben, unseren Beitrag zu leisten, denn wenn einer aufhört, beizutragen, dann bricht die Kette. Das ist eine Haltung, die ich auch meinen Kindern mit auf den Weg gebe.
Kinder müssen heute weniger mithelfen als früher. Wie lehren Sie Ihre Töchter, Verantwortung zu übernehmen?
Beide haben ein kleines Ämtli zu Hause. Sollte es kleine Konflikte im Kindergarten geben, versuche ich ihnen auf einfache Art und Weise mitzugeben, dass sie eine Verantwortung haben, wie sie mit anderen Kindern umgehen. Ich bin von meinen Eltern sehr wertebasiert erzogen worden. In einem kleinen Tal ist es wichtig, dass jeder seinen Beitrag im Ort und Tal leistet, sonst wandern alle ab.
Wo spüren Sie als Chefin von mehr als 10’000 Angestellten diese Verantwortung?
Sicherlich in Krisensituationen, bei grossen strategischen Entscheidungen mit Veränderungen für Menschen und Organisation sowie bei Personalentscheidungen. Aber nicht nur bei diesen grossen Themen, sondern auch bei jeder Interaktion mit unseren Teams, mit Lieferanten, mit Kunden. Ich weiss, dass mein Wort und meine Gesten zählen. Das lässt mich sehr bewusst agieren.
Der Artikel von Edith Hollenstein
Foto: Urs Jaudas