annabelle – Heute Dienstag diskutiert der Ständerat erneut über die Revision des Sexualstrafrechts. Sasha Rosenstein, Co-Leiter des Vereins «Die Feministen», fordert in seinem Kommentar die «Ja heisst Ja»-Lösung.
Ich hätte am 5. Dezember letzten Jahres auch ein WM-Spiel schauen können, aber was ich an diesem Tag auf dem Bildschirm mitverfolgte, war für mich politisch ebenso fragwürdig: die Nationalratsdebatte über die Zustimmungslösung «Ja heisst Ja» zur Änderung des Sexualstrafrechts. Grund für meine Irritation boten viele bürgerliche Männervoten, unter anderem von SVP-Nationalrat Lukas Reimann.
«Das Problem ist, sie müssten für jeden Abend, den Sie mit jemandem verbringen möchten, vorher detailliert regeln, wie er verlaufen soll (…) Es könnte also jede überraschende Interaktion im Rahmen eines Geschlechtsverkehrs grundsätzlich zum Tatbestand der Schändung oder der Vergewaltigung werden», so der 40-Jährige. «Und wenn die Person an der Zustimmung zweifeln muss, dann, das kann ich Ihnen sagen, macht der Sex auch keinen Spass mehr.»
Grundsätzlich möchte ich mir nicht vorstellen, wie das Sexualleben von Parlamentariern aussieht. Aber nach diesem Votum kam ich nicht umhin, mich zu fragen: Müssen wir vielleicht mal über Konsens reden, liebe Volksvertreter? Falls Sie nämlich mit Frauen schlafen und daran zweifeln, ob Sie deren Zustimmung haben, läuft etwas ganz Grundsätzliches falsch.
Oder, um es in den Worten des politisch engagierten Schweizer Illustrators Olivier Samter zu sagen: «Diejenigen, die Angst haben, dass sie ‹jetzt beim Sex immer fragen müssen›, fürchten doch eigentlich einfach die Antwort.»
Fakt ist: In der Schweiz wurde jede fünfte Frau bereits Opfer von sexueller Gewalt. Die Täter sind fast ausschliesslich Männer; die Dunkelziffer dürfte noch sehr viel höher ausfallen. Wird ein Mensch angegriffen, reagiert er oft ähnlich wie ein Tier. Heisst: Die Person geht auf Angriff, sie flieht – oder sie stellt sich tot.
Im Kontext sexueller Übergriffe spricht man bei Letzterem vom sogenannten Freezing. Das heisst: In vielen Fällen verfallen Opfer in eine Schockstarre und sind schlicht nicht fähig, sich zu wehren – weder körperlich, noch verbal.
Eine Freundin hat mir kürzlich erzählt, dass sie während des Geschlechtsverkehrs mit einem Typen eigentlich aufhören wollte, aber plötzlich kein Wort mehr herausbrachte. Sie, die sonst so gut für sich und andere einstehen kann, hat schlichtweg die Stimme verloren. Sie hat also in dieser Nacht Dinge gemacht, die sie eigentlich gar nicht wollte. Diese Erfahrung könnte ihr Sexualleben noch sehr lange, wenn nicht sogar für immer überschatten.
Wie hätte das verhindert werden können? Mit einem regelmässigen, kurzen Abchecken des Sexualpartners, ob alles in Ordnung ist. Viele Männer können sich nicht vorstellen, dass es auch zu einer Erstarrung kommen kann, wenn keine rohe Gewalt im Spiel ist. Allein das Befürchten der möglichen Konsequenzen bei einem ausgesprochenen «Nein» kann zur Erstarrung führen. Eine «Nein heisst Nein»- Lösung hilft zu wenig, vor allem wenn es zu Freezing kommt.
«Rot heisst Nein und Grün heisst Ja – doch was heisst nun Orange?»
Amnesty International beschreibt die Schwachstellen der «Nein heisst Nein»-Lösung wie folgt: «Bei der Widerspruchslösung ‹Nein heisst Nein› muss die betroffene Person darlegen, weshalb sie nicht Nein gesagt oder sich gewehrt hat. Sie findet sich also gegenüber sich selbst, ihrem Umfeld und den Strafverfolgungsbehörden in einer Rechtfertigungsposition wieder.» Heisst also: Es findet eine Opfer-Täter-Umkehr statt, da hier das Opfer in eine Bringschuld kommt.
Wie kann es sein, dass man Menschen zuerst nach ihrer Zustimmung fragen muss, wenn man einen Gegenstand von ihnen ausleihen möchte – aber nicht, wenn es um die körperliche Privatsphäre und Unversehrtheit geht? Immer wieder kam dieser passende Vergleich von Befürworterinnen in der Ratsdebatte.
Beim Konzept von Konsens, das einer Zustimmungslösung «Ja heisst Ja» zugrunde liegt, kommen Fachpersonen oft auf das Ampelsystem auf unseren Strassen zu sprechen. Hier ist so vieles klar wie unklar: Rot heisst Nein und Grün heisst Ja – doch was heisst nun Orange? Die Mehrzahl der Autos fahren bei Orange einfach noch schnell drüber. Unachtsam, mit erhöhtem Risiko. Sowohl im Strassenverkehr als auch beim Geschlechtsverkehr ist der Spielraum im orangen Bereich gross.
Eine «Ja heisst Ja»-Lösung würde uns dazu bringen, in diesem orangen Bereich mit mehr Achtsamkeit unterwegs zu sein. Man braucht beim Sex aber kein Protokoll, wie es SVP-Nationalrat Lukas Reimann im Dezember behauptet hat. Man braucht stattdessen eine gute Kommunikation, Einfühlungsvermögen und Respekt. Geht es allen Beteiligten gut und ist das noch okay, was ich da gerade mache? Das Ziel: lustvolle Fahrt nur bei Grün.
Denn nur weil man zusammen im Bett liegt, heisst dies noch nicht, dass man zu allem Ja gesagt hat – und zu allem Ja sagen wird. Das Konzept von kontinuierlichem Konsens ist nichts Beängstigendes – im Gegenteil. Es ist wichtig und richtig.
«Es gibt doch nichts Erotischeres, als zu wissen, dass mein Gegenüber mich genauso fest will»
Ich muss zugeben, ich bin auch nicht der verbal kommunikativste Mensch während dem Sex. Aber es braucht auch keine langen Konversationen für ein kurzes Check-in. Ein kurzes Innehalten, bevor die Hand wohin wandert, Augenkontakt herstellen oder auch ein fragendes Nicken oder ein kurzes, stöhnendes: «Ist das Okay?», «Darf ich dein T-Shirt ausziehen?» tuts. Sei dies beim Dating, in einer langjährigen Beziehung oder einer Ehe.
Ich finde es äusserst schade, welches Bild viele Männer in der aktuellen Debatte von Konsens zeichnen: Die Zustimmungslösung schränke ein und sei unsexy. Dabei gibt es doch nichts Erotischeres, als zu wissen, dass mein Gegenüber mich genauso fest will! «Ja heisst Ja» ist also im Grunde genommen unglaublich sexy.
Die Sexpositiv-Aktivistin Ruby Rare beschreibt in ihrem sehr lesenswerten Buch «Sex Ed: A Guide for Adults», dass Konsens und Sex stets lustorientiert sein müssen. Bei vielen Männern steht die weibliche Lust leider aber oft zu wenig im Fokus. Es braucht einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Und dieser bringt die Zustimmungslösung, denn sie stellt die Bedürfnisse aller Beteiligten in den Mittelpunkt.
Darum lasst uns mehr mit Männern über Sex, Konsens, Freezing und Zustimmung reden. So lange, bis auch die neue Generation SVP-Männer keine Angst mehr vor dem Fragen haben muss. Und lieber Ständerat: Sagt doch heute, am 7. März 2023, bitte Ja zum Ja.
Sasha Rosenstein (27) ist Gründungsmitglied und Co-Leiter des Vereins «Die Feministen» mit dem Ziel, Männer für Gleichstellungsthemen zu sensibilisieren und zu mobilisieren. Er arbeitet zudem für die alliance F am Projekt «Stop Hate Speech». Mit seinem Start-up Plentii baute er Netzwerke und Plattformen für gemeinnützige Organisationen auf.