Schweizer Schriftstellerin Mariella Mehr im Alter von 74 Jahren gestorben

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Aargauer Zeitung – Mariella Mehr schrieb mit fast übermenschlichem Überlebenswillen und schuf als Exponentin der jenischen Minderheit mit wütendem Gestus einzigartige Romane.

«ich will leben, hört ihr, trotz eurer prognose, die ihr mir vor dreissig jahren schon gestellt habt, ich will leben, nichts als leben!» Die Worte sind Silvia, der Ich-Erzählerin in Mariella Mehrs Erstling «steinzeit» von 1981 in den Mund gelegt. Und nicht nur dieser voller Wut artikulierte Überlebenswille, sondern auch die Erlebnisse dieser Silvia im erschütterndsten Kindheitsbuch, das die Schweizer Literatur je hervorgebracht hat, sind authentisch: die Mutter, die das Kind nicht haben wollte, die körperlichen und seelischen Qualen, die ihm in Heimen und Anstalten als rechtloser Exponentin der jenischen Minderheit angetan wurden.

So, dass der Überlebenswille schon fast übermenschlich stark sein musste, wenn Mariella Mehr sich aus all dem herausarbeiten und Lügen strafen wollte, was die Aktion «Kinder der Landstrasse» behauptet hatte: sie sei «eine verstimmbare, haltlose, impulsive und geltungsbedürftige Psychopatin mit neurotischen Mechanismen und einem starken Hang zur Selbstüberschätzung.»

Ein unverwechselbares literarisches Talent

Schon «steinzeit» offenbarte, dass Mariella Mehr ein aus Wut und Schmerz geborenes genuines literarisches Talent besass, das sie bis zuletzt immer neu unter Beweis stellte. So im Roman «Zeus oder der Zwillingssohn» (1994), in dem der Göttervater in der Gestalt eines Patienten in der Anstalt Waldau Aufnahme findet und von einem seiner weiblichen Opfer brutal zerfleischt und kastriert wird.

In «Daskind» (1995), dem Roman über ein vielfach gemartertes und beleidigtes, sich am Ende gegen das Unrecht aufbäumendes Wesen. In «Brandzauber» (1998), dem Requiem auf ein jenisches und ein jüdisches Mädchen, die in einem Internat ein verschworenes Duo bilden und den Tod zwischen sich stellen, «als wären sich zwei Feuerengel begegnet».

Ebenso eindringlich zeigte sie 1986 auch im Theaterstück «Akte M. Xenos ill.* 1947 – Akte C. Xenos ill.* 1966», das den Titel ihres Hilfswerk-Dossiers trägt, die Verstörung auf, die eine rassistische «Fürsorgepolitik» nicht nur in ihr angerichtet hatte. Das Thema hat Mariella Mehr, die mit ihrem Schreiben, aber auch mit ihrem politischen und aufklärerischen Einsatz zu einer glaubwürdigen Instanz im jahrzehntelangen Ringen um die Wiedergutmachung der verbrecherischen Behandlung des Fahrenden Volks wurde, bis zuletzt nicht ruhen lassen und leuchtete auch noch in jenen Gedichten auf, die das letzte, aber vielleicht Erschütterndste sind, was sie ihrem nach wie vor wachen Geist abzuringen vermochte: «Zukunft? / Sie spricht mich nicht los, / mich Schiefgeborene. / Komm, sagt sie, / der Tod ist eine Wimper / am Lid des Lichts.»

Am Ende heitere Gelassenheit

Wer Mariella Mehr in den letzten Monaten in einer Zürcher Pflegeeinrichtung begegnen konnte, stand einer Frau gegenüber, die dem fast Unerträglichen, das sie erlebt hatte, mit einer versöhnlichen Gelassenheit gegenüberstand. Ihr eindrucksvolles Gesicht zeugte noch davon, aber im Gespräch wirkte sie heiter und gelöst, fand Kontakt zu vielen Heiminsassen, freute sich über den in der Sozialfürsorge tätigen Sohn und wünschte sich, einmal noch den Grand Canyon in Arizona sehen zu können.

Die letzte Reise führte sie am 9. November 2021 nach Bern zur Ausstellung «Jetzt wählen», die ihr politisches Engagement thematisierte. Da erlebte sie die diebische Freude, dass der Kurator der Ausstellung zunächst nicht glauben konnte, dass die im Rollstuhl anonym an der Führung teilnehmende Frau in der schwarzen Lederjacke tatsächlich Mariella Mehr sei. Am 5. September 2022 ist sie nun im Zürcher Pflegeheim Entlisberg im Alter von 74 Jahren gestorben. Und es besteht kein Zweifel, dass diese ungewöhnliche Frau und das Werk, das sie ihrem schweren Leben abgetrotzt hat, noch lange in wacher Erinnerung bleiben werden.

Der Artikel von Charles Linsmayer

Bild: Ayse Yavas

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