Sängerin Victoria Canal: «Über meine Körperdysphorie zu schreiben, war Katharsis für mich»

Fokus

annabelle – Melanie Biedermann

Victoria Canal sang im Duett mit Chris Martin und tourte mit Hozier. Nun schreibt die 25-Jährige ihre eigene Geschichte. Die Singer-Songwriterin über verzerrte Realitäten, neue Vorbilder und ihre Obsession für Musik.

«Einer der besten Songs, die je geschrieben wurden», schwärmt Chris Martin. Er lehnt am Klavier der verdutzten Interpretin, die zwar kurz mit einem «Wie bitte?!» aufblickt, aber seelenruhig weiter spielt. Im August 2022 teilt Victoria Canal eine Aufnahme dieses Moments auf Twitter.

Chris Martins Band Coldplay teilt das Video ebenfalls. Der Brite ist erklärter Fan, seit er vor zwei Jahren online auf die Musik der jungen Singer-Songwriterin stiess. Er kontaktierte Canal und bot Unterstützung an. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits drei EPs veröffentlicht, doch seit die Musikerin 2022 zu Coldplays Label Parlophone stiess, legte ihre Karriere einen Gang zu. Im Mai diesen Jahres gewann sie den renommierten Ivor-Novello-«Rising Star»-Award, im Juli folgte eine Europa-Tour mit Hozier, Ende August die EP «Well Well». Seit September ist die 25-jährige nun erneut auf Europa-Tour – diesmal als Headliner.

Es klingt alles nach einem zwar sehr glücklichen, nichtsdestotrotz typischen Weg einer talentierten Newcomerin. Doch schon jene Aufnahme, in der sie Chris Martin ihr Lied «Swan Song» vorspielt, macht deutlich, dass es eine Person wie Victoria Canal im Mainstream-Pop bisher schlichtweg nicht gibt.

Die Tochter einer US-amerikanischen Künstlerin und eines spanischen Geschäftsmanns wurde in Folge eines Amnionband-Syndroms, bei dem Amnionbänder in der Gebärmutter Leben und Leib des ungeborenen Kindes gefährden können, mit einem verkürzten rechten Arm geboren und ohne rechte Hand. Ihre Musik beeinträchtigt das anders, als man leicht glauben könnte: Canal begleitet ihren Gesang seit jeher selbst an Klavier und Gitarre. Darüber, wie die Leute auf sie reagieren, schreibt sie Songs – genauso wie über alles andere, was sie als junge Frau bewegt.

Während einer kurzen Tour-Pause begrüsst uns Victoria Canal via Skype aus ihrer Wahlheimat London.

annabelle: Victoria Canal, Sie blicken auf ein aufregendes und ein sehr arbeitsintensives Jahr zurück. Wie geht es Ihnen heute?
Victoria Canal: In diesen kurzen Konzertpausen bin ich definitiv im Recovery-Modus. Aber es ist meine erste Tour, mit der ich wirklich Tickets verkaufe und das erste Mal, dass die Leute meine Songs kennen, teils sogar Wort für Wort mitsingen – und dieses Gefühl ist mit nichts zu vergleichen. Es ist, als forme sich ein kleiner, aber starker Victoria-Tribe und für diese Community bin ich extrem dankbar.

 

Online sind Sie mit dieser Community in regem Austausch. Fällt Ihnen das neben dem aktuellen Trubel in Ihrem Leben leicht? Und ist es Ihnen wichtig?
Ich versuche zu tun, was auch immer sich natürlich anfühlt und der Umgang mit Social Media ist für mich eine ziemlich natürliche Sache. Dazu glaube ich, dass Künstler:innen ihre Stärken ausspielen sollten und online connected zu sein, ist eine meiner Stärken.

 

Wer oder was hat Sie auf den Pfad der Musik geführt?
Meine Grossmutter spielte Klavier und leitete den Chor in ihrer Kirche, sie hat mich in die Welt der Piano-Musik eingeführt. Als ich sechs war, begann ich Unterricht zu nehmen. Es blieb lange bei der klassischen Ausbildung, bis ich mit elf begann, in der Schüler-Jazzband Trompete zu spielen. Als ich anfing, mich für Popmusik zu interessieren, merkte ich, dass ich meine eigenen Songs schreiben kann. Mit 13 teilte ich mein erstes eigenes Lied samt Video auf Facebook und seit ich 14 bin, spiele ich Konzerte. Als Löwe-Sternzeichen liebe ich das Rampenlicht, mich zu zeigen, fiel mir also nie schwer. In der Hinsicht war ich immer schamlos.

 

Glaubten Sie damals schon, dass es mit einer Popkarriere klappen könnte? Einfach ist dieser Weg ja nun nicht.
Nein, definitiv nicht. Ich hatte damals einen Musiklehrer, der an mich glaubte und mein Potenzial sah. Er sagte mir, dass ich professionell Musik machen und davon leben kann, wenn ich denn will. Und er zeigte mir, wie man Songs schreibt, wie man produziert, wie man ein Profil auf Social Media aufbaut, was es bedeutet, einen Vertrag mit einem Label zu haben, Konzerte zu buchen, mit Medien umzugehen – all diese Dinge. Dabei pushte er mich nie, er ermutigte mich einfach.

 

Was führte letztlich dazu, dass Sie tatsächlich komplett auf die Musik setzten?
Ich glaube, die Musik muss eine Obsession sein, damit es mit einer Karriere klappen kann. Und weil ich damals sozial nicht so gut klarkam, gab ich mich der Sache voll hin. Statt Lunch mit Freund:innen ging ich ins Musikzimmer, um zu üben. Zuhause ging es dann mit der Musik von meinem Bruder weiter. Er war besessen von Coldplay, John Mayer, James Morrison oder auch Ben Howard und Bon Iver; Singer-Songwriter-Musik. Ich glaube, damit hat er meine Musik geprägt.

 

War die Musik ihr Zufluchtsort?
Ganz genau. Die Musik war der sichere Hafen, in dem ich jederzeit einkehren konnte. Auch weil meine Familie sehr viel umzog und ich nie wirklich das Gefühl hatte, irgendwo verwurzelt zu sein, war die Musik mein Anker.

 

Sie erwähnten es gerade vorhin: Das Songwriting ist in Ihrer Musik zentral. Darin erzählen Sie offen von allem, was Sie beschäftigt, im Lied «Shape» gehts etwa ganz konkret um Ihre Körperdysphorie. Was bedeutet diese Diagnose konkret?
Wenn die Art, wie du dich siehst, nicht mit der Realität übereinstimmt, nennt man das Körperdysphorie. Ich kenne die Diagnose selbst erst, seit ich in Therapie ging.

 

Wie kam es dazu, dass Sie diese privaten Dinge aus Ihrem Leben über Ihre Musik teilen?
Ich glaube, Musik ist die beste Art, etwas zu verarbeiten und loszulassen. Über meine Körperdysphorie zu schreiben, war Katharsis für mich. Heute kenne ich so viele Menschen, vor allem Frauen, denen es gleich geht: Wir denken konstant an unsere Körper und daran, wie wir aussehen – wirklich all. the. time. Aber wie willst du dich dem auch entziehen, wenn die Gesellschaft so viel Gewicht darauf legt? Wenn man dir beibringt, dass dein Aussehen das ist, was dich wertvoll, liebenswürdig oder sexy macht?

 

Wie geht es Ihnen heute damit?
Ich erreichte einen Punkt, an dem ich es nicht mehr aushielt, derart von diesen Gedanken eingenommen zu sein und realisierte, dass das Leben mehr zu bieten hat. Dass das Loslassen Freiheit birgt. Aber natürlich geht das nicht von heute auf morgen, ich strauchle noch immer damit. Die Sache zu benennen und dann zu sehen, dass es so vielen anderen Menschen ähnlich geht wie mir, war dennoch sehr heilend für mich. Es hat meine Beziehung zu meinem Selbstbild transformiert. Es fühlt sich auch ermächtigend an, eigene Worte für meine Gefühle zu finden und die Hoheit über das eigene Narrativ zurückzuerobern.

 

Sie gelten als vielversprechende Pop-Newcomerin und Berichte über Sie betonen fast ausnahmslos Ihre Rolle als «queere, behinderte mixed-race-Aktivistin». Können Sie sich mit diesen Worten identifizieren?
Der Newcomerinnen-Status ist cool für mich und den behalte ich auch gerne so lange wie möglich, aber die Leute sehen mich vielmehr als Aktivistin, als ich mich selbst als Aktivistin sehe. Dass ich zufälligerweise behindert, queer und Latina bin, scheint mich zur Kämpferin für die Rechte anderer zu machen …

 

Es klingt, als würden Sie die Sache etwas anders sehen.
Natürlich wünsche ich mir Fortschritte; mehr Rechte, Zugang und Akzeptanz – all diese Dinge. Aber ich denke nicht, dass ich den Titel Aktivistin verdiene. Ich bin nicht diejenige, die die Grabenkämpfe austrägt, bin nicht in der Politik, schreibe keine neuen Gesetzesvorlagen. Ich widme mein Leben nicht dem Aktivismus, ich widme es der Musik. Alles, was ich persönlich beitragen kann, ist, mich nicht von der Scham über meine Queerness oder darüber, wie mein Körper aussieht, aufhalten zu lassen. Sollte das vorwärtsbringen, was als normal angesehen wird, dann ist das natürlich grossartig.

Sie betonten in früheren Interviews, dass Sie selbst kein Vorbild hatten; nicht im Sinne eines queeren, behinderten Popstars multikultureller Herkunft.
Richtig.

«Ich glaube, die Leute behandeln mich anders, seit ich den Mut gefunden habe, über alles zu sprechen, was mich beschäftigt»

 

In Ihren Songs singen sie auch über schmerzhafte Kommentare zu Ihrem Körper. Wie schwer wiegen solche Worte heute noch?
Die Kommentare kommen nach wie vor, aber ich glaube, die Leute behandeln mich anders, seit ich den Mut gefunden habe, über alles zu sprechen, was mich beschäftigt. Ich beobachte aber auch eine kollektive Veränderung. Besonders auf TikTok sehe ich, wie diverse Körper normalisiert und gefeiert werden. Das gibt mir Hoffnung und nimmt mir ein Stück meiner Angst, online ich selbst zu sein.

 

Glauben Sie, dass was Sie auf TikTok beobachten, auch im analogen Leben stattfindet?
Ich glaube, in der Generation, die noch ein bisschen jünger ist als ich, passiert gerade etwas sehr Aufregendes: ein sich gegenseitiges Ermutigen und Unterstützen. Vor nur fünf Jahren war das noch anders. Und als ich noch zur Schule ging, waren die Worte «Du bist homo» etwas vom Schlimmsten, das man zu jemandem sagen konnte. Heute wiederum kann man schon fast als uncool gelten, wenn man nicht queer ist. (lacht)

 

Sind Sie schon in dieser Welt des Sich-gegenseitig-Unterstützens angekommen?
Ich versuche mich so gut es geht einzufügen. Seit ich mit Hozier auf Tour war, kommen viele jüngere, meist queere Girls an meine Shows und ich liebe ihre Empathie, Sweetness und Verspieltheit – davon kann man so viel lernen. Im Kern bin ich auch so, ich glaube, deswegen habe ich in der Schule nirgendwo dazu gepasst. Was ironisch ist, weil ich viele Freund:innen habe, die um einiges älter sind als ich und oft als alte Seele bezeichnet werde – und jetzt erkenne ich, welchen Wert es hat, Zeit mit diesen jungen Menschen zu verbringen.

 

Nun können Sie für diese und folgende Generationen das Vorbild sein, das Sie selbst nie hatten. Ein gutes Gefühl?
Ja, ich denke schon. Mir geht es in erster Linie darum, ich selbst zu sein und zu tun, die ich am besten kann, und das ist Musikmachen. Ich hoffe, das inspiriert andere Menschen dazu, ebenfalls zu tun, was sie lieben, ohne sich darüber zu sorgen, wie sie aussehen. Als Menschen inspirieren wir einander und lernen konstant voneinander. Ich bin sehr dankbar, dass ich Teil dieses Inspirations-Kreislaufes bin.

 

Etwas, das Sie neulich über das Leben gelernt haben?
Es klingt nach Klischee, aber die Energie, die du gibst, kriegst du zurück. Und Einsamkeit kommt wahrscheinlich vom krampfhaften Versuch, jemand zu sein, der du nicht bist.

 

Wie meinen Sie das?
Ich gab lange vor, so zu sein, wie ich glaubte, dass andere mich wollen – musikalisch und auch anderweitig. Aber die Wahrheit ist, dass es da draussen für jede Person eine Community gibt. Je mehr ich akzeptiere und annehme, was mich individuell macht, desto mehr begegne ich all diesen Menschen, die mit mir auf einer Wellenlänge sind; Menschen, die zu Freund:innen werden, Menschen, mit denen ich anfange, zusammenzuarbeiten, Menschen, in die ich mich verliebe. Wenn du dich deiner Eigenart voll hingibst, wirst du deine kleine Nische mit Nerds oder Weirdos wie dir finden.

Das Interview von Melanie Biedermann

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