Orell Füssli will expandieren: «In den nächsten drei bis fünf Jahren halte ich einen Ausbau auf insgesamt 60 Filialen für realistisch»

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Aargauer Zeitung – Simona Pfister ist bei Orell Füssli Mitglied der Geschäftsleitung und verantwortlich für den Vertrieb bei der grössten Schweizer Buchhandlungs-Gruppe. Im Interview spricht sie über ihre Expansionspläne, Tiktok-Werbevideos und erklärt, wieso sie nichts von Zensur hält und wie sich die Buchpreise entwickeln werden.

Sie kann einfach nicht anders: Simona Pfister kann keine Filiale verlassen, ohne zuvor ein Buch zu kaufen, wie sie erzählt. «Es ist furchtbar.» Und wohl auch ziemlich platzraubend: «Mein Bücherstapel wird immer grösser», sagt Pfister und lacht. Kein Wunder, schliesslich ist sie bei Orell Füssli für ein Ladennetz mit mittlerweile insgesamt 49 Filialen verantwortlich. Da gehören Filialbesuche zum Job, wie an diesem Vormittag im Laden an der Zürcher Europaallee.

Welches Buch lesen Sie zurzeit?

Simona Pfister: Ich habe soeben den Thriller «Marta schläft» von Romy Hausmann beendet. Als Nächstes will ich ganz was anderes lesen: «Das verbotene Notizbuch» von Alba de Céspedes. Ich lese viel, aber natürlich bei weitem nicht so viel wie unsere Buchhändlerinnen und -händler, die oft bis zu drei Bücher pro Woche verschlingen.

Was ist mit dem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten «Blutbuch» von Kim de l’Horizon?

Das steht weit oben auf meiner Liste. Das wurde mir von unserem Team sehr empfohlen. Und die Nachfrage danach ist derzeit gewaltig. Wenn ein Buch viel mediale Aufmerksamkeit erhält, selbst wenn es verrissen wird, spüren wir das in den Umsätzen. Denn dann werden die Leute neugierig.

Sie verdanken also Kim de l’Horizon Ihren Winter-Blockbuster.

Nein, da kommt noch mehr. Jedes Jahr gibt es allein im deutschsprachigen Raum über 100’000 Neuerscheinungen. Und ich bin sicher, dass bald noch einige Bücher zu Roger Federer erscheinen werden, die unter dem Weihnachtsbaum landen werden. Ein Toptitel wird bestimmt auch das neuste Buch von Barack Obama.

Das sind Einzeltitel. Was ist mit Bücherreihen wie «Harry Potter» und «Fifty Shades Of Grey», die lange für volle Kassen in den Buchhandlungen sorgten? Das scheint es nicht mehr zu geben.

Moment (Pfister steht auf und holt ein Buch aus einem Regal). Das ist «Nur noch einmal für immer», das neuste Buch von Colleen Hoover. Sie schreibt Bücher für Jugendliche, so genannte Young-Adult-Romane. Die sind unglaublich erfolgreich.

Die sind aber bei weitem nicht so bekannt wie Harry Potter.

In der breiten Bevölkerung vielleicht weniger, aber der Hype bei der entsprechenden Zielgruppe ist enorm. Davon bekommt die Öffentlichkeit heute halt vielleicht etwas weniger mit, weil die Bewerbung zu einem grossen Teil auch über Tiktok stattfindet. «Booktok» ist das Schlagwort der Stunde. Auch unsere lernenden Buchhändlerinnen und -händler empfehlen im Namen von Orell Füssli auf Tiktok bestimmte Titel.

Die Jugend liest also noch.

Ja, absolut. Und wir versuchen, schon die Kinder fürs Lesen zu begeistern, auch mit Klub-Aktivitäten. Viele hören zudem Kinder-Hörbücher. Und wir produzieren selbst einen Podcast.

Tiktok, Kinderklub, Podcast – der Aufwand scheint heute deutlich grösser zu sein, um Bücher noch zu verkaufen. Früher reichte eine Buchbesprechung im SRF-Literaturclub.

Es braucht heute in der Tat eine Kombination von all diesen Massnahmen. Mit Tiktok und Instagram erreichen wir nie und nimmer die gesamte Kundschaft. Wir werben deshalb auch mit Plakaten und vertreiben noch immer ein gedrucktes Magazin mit den neusten Buchtipps. Und dann sind wir natürlich auf die Medienberichterstattung angewiesen. Deshalb finde ich es persönlich schon sehr schade, dass SRF die Literaturberichterstattung in seinen Programmen derart gekürzt hat.

Schreiben die Buchhandlungen von Orell Füssli bei all diesem Marketing auch Gewinn?

Wir sind erfolgreich unterwegs, Zahlen nennen wir aber keine.

Allen Unkenrufen zum Trotz kann sich das gedruckte Buch noch immer gut behaupten. Der E-Book-Anteil macht gerade mal 10 Prozent des Buchmarktes aus. Wie erklären Sie sich das?

Wir sitzen den ganzen Tag am Computer. Viele Leute schätzen es, dass sie es sich in der Freizeit mit einem Buch in der Hand auf dem Sofa oder in den Ferien am Strand gemütlich machen können. Etwas ist klar: Es gibt nicht Print- und E-Books-Leser, die meisten machen beides.

Das heisst: Den billigen Krimi liest man eher elektronisch, den Buchpreis-Gewinner aber eher im Print, um ihn danach ins Regal stellen zu können?

So genau kann ich das nicht sagen. Aber das Buch ist definitiv zu einem Lifestyle-Element geworden. Gerade auch bei den Young-Adult-Romanen, die von den Leserinnen und Lesern genutzt werden, um ganze Wände zu verzieren und auf Tiktok stolz zu präsentieren. Wir haben sogar Kunden, die kaufen besonders schön gemachte Bücher doppelt.

Wieso das?

Eines zum Lesen, das andere, unversehrte, zum Ausstellen im Regal.

In der Pandemie wurde viel gelesen. 2021 wurden in der Schweiz 5 Prozent mehr Bücher verkauft. Hält dieser Trend an?

Ja, es geht weiter leicht aufwärts. Aber man darf nicht vergessen, dass unsere Branche in den vergangenen zehn Jahren 25 Prozent des Umsatzes verloren hat.

Weshalb eigentlich?

Das Freizeitangebot ist grösser geworden. Social Media unterhält viele Menschen. Und Streamingdienste wie Netflix halten auch vom Lesen ab. Und natürlich hat der Schweizer Buchhandel Marktanteile ans Ausland verloren, vor allem wegen Amazon und Co.

Auch in der Schweiz kaufen die Menschen ihre Bücher häufiger online, 2021 war es bereits jedes zweite Buch. Trotzdem haben Sie soeben im Bahnhof Aarau ihre 49. Filiale eröffnet. Wieso?

Ich sehe durchaus Chancen für weitere Filialen. Für nächstes Jahr haben wir schon einige Standorte gesichert. In den nächsten drei bis fünf Jahren halte ich einen Ausbau auf insgesamt 60 Filialen für realistisch. Aber wir möchten nicht auf Teufel komm raus expandieren, es muss alles stimmen. Auch, weil ein grosser Teil des Umsatzes in der Filiale mit abgeholten Büchern gemacht wird.

Da würde es ein günstiger Automat doch auch tun!

Ich sehe es anders. Die Filiale wird so zu einer Pick-up-Station mit Inspirationssortiment. Und man kann auch noch einen Schwatz mit der Buchhändlerin halten.

In Ihrer Filiale im Bahnhof Aarau kooperieren Sie mit einer Confiserie. Wie schon in Luzern. Was ist sonst noch möglich, ein Buchladen mit Bar oder Velo-Werkstatt?

Mein Traum als ehemalige Floristin wäre eine Kombination mit einem Blumenladen. Das sind wir noch immer am Prüfen. Aber klar, es gibt sicher noch andere Möglichkeiten, wobei Kaffee und Buch nun mal gut zusammenpassen.

Wie lang dauert es, bis es zu einem Café mit ein paar Büchern wird?

Das ist definitiv nicht das Ziel, wir werden keine Gastronomen. Aber wir haben in manchen Filialen ja auch eine Starbucks-Ecke. Und theoretisch wäre es auch eine Option, dass wir Bücher in eine Starbucks-Filiale stellen könnten. Wir sind da sehr offen. Auch bei den Events, die Buch und Kulinarik verbinden. Kürzlich organisierten wir eine Lesung mit Pedro Lenz im «Kornhauskeller» in Bern: Diese war innert ein paar Stunden ausverkauft und ein Riesenerfolg. Solche Formate haben Zukunft.

In Bern kooperieren Sie neu gar mit der Konkurrenz, mit der französischen Payot-Kette. Weshalb?

Weil Payot mehr Kompetenzen bei der französischen Literatur hat. Und davon könnten wir auch profitieren – das sehen wir etwa bei den Mangas.

Die Manga-Regale bei Orell Füssli werden in der Tat immer länger.

Das ist so. Der Manga-Boom ist enorm, die Manga-Community wird in der Schweiz immer grösser. Auch ältere Leute tasten sich an dieses Genre heran. In der Romandie ist dies schon länger der Fall, weil dort die sogenannten «Bandes dessinées» einen grossen Stellenwert haben.

Ist die Payot-Kooperation nicht viel eher eine Reaktion auf die Offensive des französischen Riesen Fnac, der in Manor-Warenhäusern neu Bücher verkauft?

Nein, das ist losgelöst davon entstanden. Ich könnte mir auch eine Partnerschaft mit Payot in Zürich vorstellen. Kooperationen können sehr inspirierend und erfolgreich sein.

Dennoch: Orell Füssli verkauft in seinen Buchhandlungen Erdnussbutter, Schoggi-Fondue und Cola-Dosen. Schaden Sie da als Krimskramsladen nicht Ihrem Image als ein traditionsreicher, über 500 Jahre alter Buchhändler?

Also die Erdnussbutter ist eine sehr spezielle Marke aus England, die bei Expats beliebt ist, weil sie Heimatgefühle auslöst. Die gibt’s nur in unseren englischen Abteilungen. Alle diese Produkte gibt’s stets nur als Ergänzung zu einem bestimmten Buchangebot.

Dieser Sortiment-Mix mit Kalendern und Spielen erinnert stark an die Läden des US-Buchhändlers Borders. Und den gibt es nicht mehr …

Die Sortimentsgestaltung ist ein Balanceakt. Das Buch ist und bleibt das Kernelement unserer Filialen. Garantiert.

Was auch auffällt, dass die Esoterik einen bedeutenden Anteil in den Regalen hat, bis hin zu Räucherstäbchen und Duftölen. Weshalb?

In der Pandemie hat dieser Bereich an Bedeutung gewonnen. Und wir zensieren nicht. Sie werden also ab und zu auch ein Buch entdecken, bei dem Sie vielleicht die Nase rümpfen.

Winnetou-Bücher verkaufen Sie aber nicht.

Der Verlag hat das Winnetou-Angebot stark reduziert. Wenn die Nachfrage nach Winnetou da ist, würden wir die Bücher auch anbieten. Allerdings überlassen wir unseren Teams vor Ort die Möglichkeit, das Sortiment mitzubestimmen. Unsere Fachleute wissen am besten, was die Kundschaft möchte.

Es geht ja nicht nur um Winnetou. Wie würden Sie mit einem Shitstorm wegen rassistischer oder diskriminierender Bücher in Ihren Geschäften umgehen?

Das müssten wir aushalten. Ich erinnere mich an Geschichten von Schweizer Detailhändlern, deren 1.-August-Kerzen made in China waren. Auch das Buch von Kim de l’Horizon polarisiert …

Das ist etwas völlig anderes! Die Rede war von Diskriminierung und Rassismus.

Wir werden nie eine Zensurstelle sein und schliessen grundsätzlich keine Bücher aufgrund ihrer Inhalte, Titel oder persönlicher Meinungen der Autoren aus unserem Sortiment aus. Ausgenommen sind natürlich durch Gerichte verbotene Bücher und Medien, die wegen rassistischer, menschenverachtender oder gewaltverherrlichender Inhalte auf dem Index der deutschen Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften geführt sind.

Ihre Haltung ist also: Sie verkaufen alles, was legal und genügend nachgefragt wird.

Genau. Mit unserem breiten Sortiment in den Buchhandlungen und online leisten wir auch einen Beitrag zur kulturellen und inhaltlichen Vielfalt sowie zur Meinungs- und Informationsfreiheit. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir als Unternehmen und Händler jedes erhältliche Buch inhaltlich befürworten. Das Gleiche gilt für die persönlichen Äusserungen und Meinungen von Buchautorinnen und Buchautoren.

Zuletzt sind die Preise für Bücher um 1,4 Prozent gestiegen – noch vor der jetzigen Inflation. Was bedeutet das für dieses Jahr?

Wir haben keine Preiserhöhungen geplant. Auch im vergangenen Jahr haben wir sie nicht erhöht.

Obwohl das Papier teurer geworden ist?

Es ist eine schwierige Situation, klar. Aber oft kaufen wir viele Bücher schon im Voraus ein, gerade für Spitzenzeiten wie Weihnachten. So können wir noch von den alten, tieferen Papierpreisen profitieren.

Auch diesmal verlässt Simona Pfister die Buchhandlung nicht ohne Buch. Ihre Wahl: «Ruhm für eine Nacht» von Calla Henkel.

Der Artikel von Benjamin Weinmann und Florence Vuichard

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