Nationalrätin Irène Kälin: So erlebe ich das Bundeshaus als junge Mutter

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annabelle – Irène Kälin ist Nationalratspräsidentin und Mutter. In ihrem Kommentar schreibt sie: Zur Geburt gibt es in Bundesbern Blumen und Karten – danach müssen sich die Eltern wieder allein um sich und alles Familiäre kümmern.

Ich erinnere mich gut an meine erste Erkenntnis als Nationalrätin: Kühe haben es einfacher als Frauen. Wieso? Im Stall haben selbst bürgerliche Politiker:innen nichts gegen Bürokratie und die Einmischung des Staats einzuwenden. Und: Bei Kühen fliesst das Geld. So wurde während meiner ersten Session 2017 im Nationalrat beschlossen, dass Landwirtschaftsbetriebe mit Ställen, in denen Kühe dauernd angebunden sind, finanziell nicht mehr benachteiligt werden sollen im Vergleich zu Freilaufställen, wenn es um Subventionen geht. Zudem solle sich, so das Parlamentsvotum, der Bund bei der Steuerung der Milchmenge einschalten.

Ziemlich zur gleichen Zeit setzte der Ständerat ein anderes unmissverständliches Zeichen, und zwar gegen die Lohngleichheit von Mann und Frau; er wehrte sich erfolgreich gegen obligatorische Lohnkontrollen für Unternehmen mit mehr als hundert Arbeitnehmenden. Begründung? Man wolle den bürokratischen Aufwand nicht.

Mutterkühe sind ein Thema in Bundesbern. Mütter hingegen nicht. Wir wissen zwar, dass es sie gibt, aber damit hat es sich dann auch schon. Für Väter gilt selbstverständlich dasselbe. Wir gratulieren herzlich und freuen uns sehr, wenn Parlamentarier:innen ein Kind bekommen haben. Es gibt schöne Blumen und eine Karte dazu. Doch danach sollen sich die Politiker:innen-Eltern doch bitte schön wieder allein um sich und alles Familiäre kümmern.

«Ich wurde belehrt, beleidigt und gelobt. Dabei habe ich nur gemacht, was alle jungen Mütter machen»

Es existiert zum Beispiel kein System, das die Stellvertretung während der Babypause im Zeitraum der dreiwöchigen Sessionen im National- und Ständerat regeln würde – und damit gibt es für Politiker:innen im Grunde auch keinen Mutterschafts- und auch keinen Vaterschaftsurlaub. Wie um zu unterstreichen, dass frischgebackene Eltern in Bundesbern eigentlich nichts zu suchen haben, gab es bis vor Kurzem nicht mal eine Wickelmöglichkeit im Herzen unserer Demokratie: im Parlamentsgebäude.

Dabei müsste doch Vereinbarkeit – gerade in einem Milizsystem – grossgeschrieben werden! Dieses baut ja darauf, dass wir nur Teilzeitpolitiker:innen sind und daneben ein Berufs- und Familienleben haben. Aber das Gegenteil ist der Fall. Von Tag eins an musste ich mich als Nationalrätin mit eigentlichen Unvereinbarkeitsproblemen herumschlagen.

Noch am selben Samstagmorgen, an dem ich erfuhr, dass ich schwanger war, habe ich auch erfahren, dass ich in den Nationalrat nachrücken würde. Das war nicht nur einfach. In der öffentlichen Meinung passen diese beiden Rollen nämlich nicht besonders gut zusammen. Und das hat zu reden gegeben. In der ganzen Schweiz.

Die junge Parlamentarierin, die ihren Sohn einfach mitnimmt ins Parlament! Die stillt! Die wickelt! Und politisiert! Jeder und jede hatte offenbar eine Meinung dazu. Via Medien, Mailbox und Briefpost wurde ich belehrt, beleidigt und gelobt. Dabei habe ich nur gemacht, was eigentlich alle jungen Mütter machen. Doch statt mit mir und allgemein über die Vereinbarkeit von Politik und Familie zu diskutieren, habe ich zu hören bekommen, was ich alles falsch oder anders machen sollte.

«Vereinbarkeit ist für unser Milizsystem entscheidend»

Ich erhielt unzählige gute und schlechte Tipps über nachhaltige Windeln, den korrekten Umgang mit einem Nuggi, der zu Boden gefallen ist, zu meinen Brüsten und über die richtige Location fürs Stillen bis hin zur Information. wie eine gute Mutter zu leben hat (zuhause!). Immerhin weiss ich eines bis heute: Ich würde es wieder genau gleich machen. Doch wir müssen dringend darüber reden, was wir besser machen können.

Denn Politik, Wirtschaft und auch wir als Gesellschaft sind gefordert, wenn wir die Vereinbarkeit verbessern und das Leben von Eltern nicht weiter unnötig verkomplizieren wollen: Elternurlaub, bezahlbare Kitaplätze, Teilzeitpensen auch in Kaderfunktionen und auch für Väter, Job-Sharing, Anerkennung der Care-Arbeit und der Respekt vor ungewohnten Lebensmodellen wären dabei ein guter und längst überfälliger Anfang. Denn mangelnde Vereinbarkeit ist nicht nur für die Betroffenen ein täglich spürbares Defizit, sondern sie schlägt sich ebenso deutlich und negativ im Fachkräftemangel nieder.

Vereinbarkeit ist auch für unser Milizsystem entscheidend. Viele Ratsmitglieder schaffen heute bereits den Spagat zwischen Berufsleben und Politik nur noch bedingt und entscheiden sich bewusst für das eine oder das andere. Noch schwieriger ist es, Politik, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Doch wenn uns das Milizsystem tatsächlich so wichtig ist, wie es – auch von mir – immer wieder betont wird, dann sind wir in der Pflicht, die Vereinbarkeit dieser drei Lebenswelten zu stärken.

Und genauso sehr sind wir Politiker:innen an den Schalthebeln der Macht gefordert, die Vereinbarkeit für Eltern – und insbesondere für die Frauen – voranzutreiben, damit sie nicht ihre Jobs und ihre Unabhängigkeit an den Nagel hängen und in Rollenmuster gedrängt werden, die sie für sich selbst eigentlich nicht ausgewählt hätten.

Der Artikel von Irène Kälin

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