Meine Nazi-Grossmutter

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watson – barbara bonhage – 

Ich erfuhr spät, dass meine Grossmutter, die ich nie kennenlernte, überzeugte Nationalsozialistin gewesen ist. Nach der Lektüre hunderter Briefe stellte ich mit Erschrecken fest, wie viel Schuld sie auf sich geladen hat.

Im Herbst 1927 begann Hilde, so hiess meine Grossmutter, ein Medizinstudium in Bonn. Sie lernte jeden Tag Latein, hatte ein eigenes Zimmer gemietet und fühlte sich zum ersten Mal erwachsen. Sie war 20 Jahre alt und stellte sich vor, wie sie dereinst als Ärztin arbeiten würde.

Sie war voller Tatendrang und wollte in der wirtschaftspolitisch schwierigen Zeit der Weimarer Republik endlich etwas bewirken. Gerade hatte sie im Dortmunder «Goethe-Gymnasium» ihr Abitur mit guten Noten bestanden.

Schon als Jugendliche interessierte sich Hilde für Politik und kritisierte die Bedingungen scharf, welche Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg aufgezwungen worden waren. Als junge Frau wollte sie aber auch einen Mann zum Heiraten finden, am liebsten einen Verbindungsstudenten. Das schrieb sie in einem Brief nach Hause, ausserdem davon, wie sie bei jedem Wetter mit ihrem Rad durch die Stadt sause.

Ich bedaure es, meine deutsche Grossmutter nie kennengelernt zu haben. Sie starb im Dezember 1945 in St. Blasien im Schwarzwald, nahe der Schweizer Grenze. An ihrem Totenbett lag Monate nach Kriegsende statt der Bibel Hitlers «Mein Kampf».

Fast 20 Jahre später, 1962, sind meine Eltern aus Deutschland in die Schweiz eingewandert, den Täterhintergrund nur halbwegs hinter sich lassend. Erzählt wurde von Hilde wenig. Hinterlassen hat sie mir dennoch die diffuse Scham, Deutsche zu sein. Dass aus Schweizer Perspektive alle Deutsche Nazis waren, bekam ich in den 1970er-Jahren schon als Kindergärtnerin zu spüren. Ich wurde dieses Schamgefühl nicht mehr los, bis ich Hildes Geschichte recherchierte und aufschrieb.

Hilde brach ihr Studium nach kurzer Zeit enttäuscht wieder ab. Sie würde ohnehin nie eine Anstellung als Ärztin bekommen, wenn sie erst Mutter wäre. Und Kinder, das wollte sie unbedingt. Andreas, der Jurastudent, passte immerhin. Er war zwei Jahre älter als sie, Mitglied der «Alemania» und dachte politisch ähnlich. Viele Male schon hatten sie miteinander getanzt. Hilde hatte ihn ihren Eltern vorgestellt und im Juli 1931 fand die Hochzeit statt.

Andreas arbeitete zunächst noch an seinem Examen, Hilde langweilte sich in den ersten Ehejahren furchtbar. Das ersehnte Kind liess auf sich warten und wirtschaftlich sah es düster aus. Ob Andreas bald etwas zu verdienen bekäme, war unklar. An ihre Schwester schrieb Hilde am 28. Oktober 1931 hoffnungsvoll, dass doch bald «all die Not und all das Elend in unserem lieben deutschen Land geringer und leichter werden» möge.

Hilde setzte auf die NSDAP und glaubte im Vorfeld der Reichspräsidentenwahl von 1932 fest daran, «dass die Entscheidung nun endlich einmal fällt, so dass mit neuen Kräften begonnen werden kann». Noch brauchte sie aber Geduld, bis Adolf Hitler am 30. Januar 1933 in ihren Augen «endlich» Reichskanzler war.

Der ganze Atrikel auf watson.ch

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