Marmorera – ein Dorf auf Tauchgang

Fokus

watson.ch – Rachel Huber / Schweizerisches Nationalmuseum

Was ist wichtiger: finanzielles Auskommen und Energieversorgung für eine ferne Stadt oder Heimat und Armut? Im bündnerischen Marmorera fiel das demokratisch erzielte Verdikt klar aus. Zürich brauchte Strom, viele Einheimische Geld, deshalb versank der Ort Mitte des 20. Jahrhunderts in den Fluten eines Stausees.

Der Staudamm Marmorera Castiletto ist Teil der Erfolgsgeschichte der Schweizer Energiegewinnung durch Wasserkraftnutzung. Wie in vielen Ländern der Welt nahm auch in der Schweiz der Strombedarf nach dem Zweiten Weltkrieg zu, womit unter anderem die globale Dammbauindustrie wuchs.

Weltweit wurden im letzten Jahrhundert zwei Billionen US-Dollar in Megadammbauprojekte investiert. Um 1900 existierten ungefähr 600 grosse Dämme, 1950 waren es bereits 5000 und im Jahr 2000 gab es weltweit 45’000 davon. Über 90 Prozent der grossen Dämme wurden zwischen 1960 und 2000 gebaut. Der Marmorera-Staudamm entstand folglich in der frühen Phase des transnationalen Dammbau-Hypes (die Schweiz errichtete im transnationalen Vergleich schon früh Wasserkraftwerke. Das Albulawerk Sils nahm seinen Betrieb bereits 1910 auf).

Obwohl die Schweiz neben den USA und den skandinavischen Nationen eines der am besten elektrifizierten Länder war, warb man in den 1930er- und den 1940er-Jahren grosszügig für die «weisse Kohle» und die Wasserkraft, das «nationale Gut». Mit Erfolg, die Schweizer Bevölkerung stand folglich hinter dem Ausbau der Hydroenergie, der in der Nachkriegszeit effizient in Angriff genommen wurde.

Der im Kanton Graubünden gelegene Marmorera-Staudamm, an dem man auf dem Weg vom Mittelland über den Julierpass ins Engadin vorbeifährt, wurde von 1950 bis 1954 von den Zürcher Elektrizitätswerken errichtet. Er ist einer von 33 Stauseen im Kanton. Der 91 Meter hohe Dammkörper besteht ausschliesslich aus lokalen Erdmaterialien. Seine Luftseite wurde mit Humus bedeckt und begrünt. Dadurch fügt er sich harmonisch in das Landschaftsbild ein, und fährt man von Norden her auf ihn zu, sieht man ihn erst bei genauerem Hinsehen.

Am 14. September 1955 wurde die Talsperre Marmorera Castiletto eingeweiht. Unter den Anwesenden waren neben dem Zürcher Stadtpräsidenten Emil Landolt auch lokale Politiker wie Gion Not Spegnas, Kreispräsident des Oberhalbsteins, sowie involvierte Unternehmer und Beamte. Während die illustren Gäste dem Festakt im hochalpinen Talbecken beiwohnten, produzierte die Anlage weiter unten in Tinizong, eine der drei Kraftwerkstufen, bereits Strom für Zürich. Der Stausee wirkte wie ein natürlicher Bergsee mit einem glatten Wasserspiegel, in dem das Sonnenlicht glitzerte.

Doch das vermeintliche Bergidyll birgt ein Geheimnis. Auf dem dunklen Grund liegen die Ruinen des Dorfes Marmorera – einst eine florierende Gemeinde, die vor dem Bau des Albulatunnels vom Kutschenverkehr über den Julierpass profitierte, deren Bürgerinnen und Bürger seit dem Zweiten Weltkrieg jedoch mehr schlecht als recht von der Landwirtschaft lebten.

Als die Zürcher Elektrizitätswerke nach dem Krieg Interesse am Talbecken zeigten und von einigen der 24 Familien Widerstand ausging, überliess die Stadt Zürich nichts dem Zufall. Man hatte nur wenige Jahre zuvor, von 1940 bis 1944, im Fall von Rheinwald erlebt, dass sich die Bündner Bergbevölkerung sehr erfolgreich gegen ein Stauseeprojekt wehren konnte. So ein Debakel wollte man nicht noch einmal erleben. Also betraute man 1948 Dr. W. Pfister, den Sekretär der Industriellen Betriebe der Stadt Zürich, damit, mit den einzelnen Familien über den Verkauf ihres Grundbesitzes zu verhandeln.

Die Opposition um Nicolin Dora-Widmer fand, der Unterhändler habe sich unfair verhalten und die Familien gegeneinander ausgespielt, zumal einige kein Deutsch, sondern ausschliesslich Italienisch oder Rätoromanisch sprachen. Man bot den seit Längerem in wirtschaftlicher Not lebenden Bauern für ein «Ja» bei der Abstimmung um die Konzession Beträge, die damals über dem Verkehrswert ihrer Grundstücke lagen. Der Druck wurde zusätzlich erhöht, indem man warnte, bei einem «Nein» und einer darauffolgenden allfälligen Enteignung fiele die Entschädigung tiefer aus.

Andere, wie der damalige Gemeindepräsident Florin Luzio-Ruinelli, sahen die ökonomischen Vorteile für die einzelnen Familien und die verschuldete Gemeinde, an welche, wegen des Erlasses des bündnerischen Wasserkraftgesetzes 1906, bei einer Annahme sämtliche Einnahmen aus der Wasserkraftnutzung gehen würden.

Am 17. Oktober 1949 stimmten die Bürger in Marmorera schliesslich über die Erteilung der Konzession zur Ausnützung der Wasserkräfte und zur Erstellung eines Stausees mit 24 Ja- zu 2 Nein-Stimmen ab. Die Witwen mit Grundbesitz besassen kein Stimmrecht und konnten ihr Schicksal politisch nicht steuern. Damit war die Überflutung des ganzen Dorfes inklusive Kirche, Schulhaus, 29 Wohnhäusern und 52 Ställen, des Weilers Cresta und von 140 Hektaren Wiesen- und Waldgelände fast beschlossen.

Nur noch die Stadtzürcher Bevölkerung musste einem Kredit von 85 Millionen Franken zustimmen, was sie am 13. November 1949 auch tat. Einige Familien wurden zwangsenteignet und die meisten in andere bündnerische Gemeinden umgesiedelt. Für diejenigen, die ihre Heimat nicht verlassen wollten, wurde oberhalb des Sees ein neues Marmorera gebaut.

Die Stadt Zürich schenkte der Dorfgemeinschaft eine Kirche und auf dem Haus am Dorfeingang steht gut sichtbar in grossen, weissen Lettern geschrieben: «La Resisdenza» – ein gut sichtbarer Hinweis auf das Selbstverständnis einer Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern des alten Marmorera, die damals trotz persönlicher finanzieller Besserstellung ihre Heimat niemals aufgegeben hätte und diese Haltung noch lange vertrat.

Der Artikel von watson.ch 

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