Leiter des Lernprogramms gegen häusliche Gewalt: «Viele Männer sehen sich nicht als Gewalttäter»

Fokus

annabelle – Helene Aecherli

Bei Marc Mildner lernen Männer in einem mehrmonatigen Programm, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Ein Gespräch über die Dynamiken der häuslichen Gewalt, Täterarbeit und eine neue männliche Rollenidentität.

annabelle: Marc Mildner, beim Stich­wort «Lernprogramm Partnerschaft ohne Gewalt» stellt man sich unwill­kürlich Menschen auf Stühlen im Kreis vor. Ist das vollkommen abwegig?
Marc Mildner: Nein, gar nicht. Das Lernprogramm findet in einem unse­rer Sitzungszimmer statt, mit Flip­charts und Wandtafel. Und die Teilneh­mer sitzen tatsächlich im Halbkreis.

Können Sie uns diese Lernprogramm­gruppe näher beschreiben?
Die Gruppe repräsentiert einen Quer­schnitt der männlichen Bevölkerung der Schweiz. Sie besteht aus acht bis zehn Teilnehmern, die Mehrheit ist zwischen 30 und 45 Jahre alt. Wir ha­ben aber ab und zu auch einige, die an­fangs zwanzig sind, und ein paar we­nige Senioren. Manche kommen imAnzug, es sind oft Männer, die in Be­rufen tätig sind, in denen der Anzug im Kundenkontakt Pflicht ist. Andere tragen Jeans und Pullover, und ich sehe immer wieder auch den Typ Rapper mit Käppi.

Wie ist die erste Sitzung?
Die Luft ist zum Schneiden dick. Viele Männer empfinden eine grosse Scham oder Unsicherheit und blicken miss­trauisch in die Runde. Im Nachhinein höre ich, dass sich manche in diesem Moment fragen: «Sind das die Gefähr­lichen, die ihre Frauen schlagen?» Denn selbst sehen sie sich oft nicht als Gewalttäter und verstehen nicht, wes­halb sie dieser Gruppe zugewiesen worden sind. Und genau an diesem Punkt setzt das Lernprogramm an: Sie sind hier, um zu lernen, die Verantwor­tung für ihre Gewalt zu übernehmen. Und dafür haben sie 16 Sitzungen lang Zeit. Wir treffen uns in der Regel ein­mal pro Woche abends.

Nehmen auch homosexuelle Männer an den Lernprogrammen teil?
Nein. Uns werden zwar vermehrt homosexuelle Personen zugewiesen, doch können wir sie noch nicht in eine Gruppe integrieren, da bei den Teil­nehmern vielfach auch Homophobie ein Thema ist. Die Betroffenen aus gleichgeschlechtlichen Beziehungen kommen zu Einzelgesprächen.

Werden Ihnen die Teilnehmer von Am­tes wegen zugewiesen oder erfolgt das Lernprogramm auf freiwilliger Basis?
Die Zuweisung an die Bewährungs­- und Vollzugsdienste des Kantons Zü­rich erfolgt im Rahmen eines Strafver­fahrens nach einem Strafbefehl, einem Gerichtsurteil oder als Ersatzmass­nahme. Letzteres bedeutet, dass die beschuldigte Person mit Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen wird und eine solche Auflage kann die Teil­nahme an einem Lernprogramm sein.Es gibt aber auch Personen, die uns nach der Sistierung eines Verfahrenszugewiesen werden. Seit Juli 2020 ist die Staatsanwaltschaft gemäss Schwei­zer Strafgesetz berechtigt, ein Verfah­ren zu unterbrechen oder einzustellen, wenn das Opfer darum ersucht. Im Gegenzug kann die Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person zum Besuch eines Lernprogramms verpflichten.

Freiwillig kommt also keiner?
Ins Lernprogramm nicht. Es gibt aber verschiedene Fachstellen, die Beratun­gen anbieten. Ich selbst führe eine pri­vate Praxis für Paarberatung, und in diesem Rahmen sehe ich immer wie­der Männer, die sich freiwillig melden. Meistens sind es Personen, die unter grossem Problemdruck stehen. Aber die Unfreiwilligen brechen die Bera­tung weniger ab.

Warum?
Wenn es darum geht, sein Verhalten zu ändern und diesen Vorsatz wirklich umzusetzen, ist das harte Arbeit. Ich merke bei der freiwilligen Beratung: Sobald es anstrengend wird, steigen viele aus – gerade, wenn sie sich von der Beratung ein schnelles Mittel für ihre Probleme erhofft hatten. Aber wer ein Gewaltproblem in der Beziehung hat, muss zuerst den eigenen Anteil an den Konflikten anerkennen, sich seine Schattenseiten eingestehen. Nur so kann er zur Problemeinsicht gelangen.Das ist aufwendig. Ohne Druck von aussen geht das kaum.

Nun ist die Auseinandersetzung in einer Gruppe nicht ohne. Eignen sich denn alle Teilnehmer dafür?
Das klären wir im Vorfeld ab. Nicht gruppenfähig sind etwa Personen mit sprachlichen Schwierigkeiten, die sich deswegen genieren oder die aufgrund einer auffälligen Persönlichkeitsstruk­tur zu viel Raum einnehmen. Unzu­mutbar für die Gruppe sind Männer, die zum Beispiel auch gegenüber Kin­dern gewalttätig geworden sind. Für diese Personen ist das Einzelsetting eine Option. Sexualisierte Gewalt hin­gegen ist für die Teilnahme am Lern­programm ein Ausschlusskriterium: Sexualstraftäter werden in der Regel einer forensischen Therapie zugewie­sen, da sie oft einen höheren Behand­lungsbedarf haben.

Laut einer aktuellen Umfrage der For­schungsstelle Sotomo zur Gewalt in Paarbeziehungen gehen rund achtzig Prozent der Befragten davon aus, dass übermässiger Alkoholkonsum das Hauptmerkmal von männlichen Tä­tern ist. Trifft das zu?
Alkoholkonsum kann eine Ursache sein. Vor ein paar Jahren ergab eine schweizweite Studie, dass Alkohol in fünfzig Prozent der häuslichen Gewalt­fälle mit im Spiel ist. Denn unter Al­koholeinfluss lässt die Selbststeue­rungskompetenz nach, man ist nicht mehr in der Lage, rechtzeitig zu brem­sen, oder wird überschwänglich und begeht schneller Grenzüberschreitun­gen. Nur – das heisst nicht, dass die Ge­walt nicht auch ohne Alkohol passiert wäre. Gewalt kann auch aufgrund einer fehlenden Kompetenz zur Konfliktlö­sung entstehen, aus Überforderung, etwa aus Angst, etwas zu verlieren, oder einem Gefühl der Unterlegenheit oder aufgrund eines Machtanspruchs.

Gibt es denn überhaupt so etwas wie ein klassisches Täterprofil?
Nein, die Personen genau wie auch die Ursachen der häuslichen Gewalt sind so unterschiedlich, dass sie sich kaum in Profile klassifizieren lassen. Hin­gegen können wir zwei grundsätzliche Gewaltdynamiken benennen: Gewalt wird in sogenannt asymmetrisch ge­stalteten Beziehungen sowie in situa­tiv eskalierenden Konfliktsituationen ausgeübt.

Das müssen Sie näher erklären.
In asymmetrisch gestalteten Beziehun­gen herrschen traditionelle patriar­chale Strukturen vor, die in vielen Län­dern und Gemeinschaften noch immer aufrechterhalten werden, auch in der Schweiz. Gewalt wird zur Kontrolle und Machtausübung angewandt, die Täter sind vorwiegend männlich. Die Gewaltdynamik entsteht aufgrund der Denk- ­oder Verhaltensmuster des Mannes, der sich als das rechtmässige Oberhaupt der Ehe und Familie sieht. Fühlt er sich in diesem Recht beschnit­ten, erachtet er es als legitim, es mit Gewalt durchzusetzen. In vielen Fäl­len beginnt die Gewalt schon kurz nach der Hochzeit. Situativ eskalie­rende Konflikte hingegen entwickeln sich erst über einen längeren Zeitraumhinweg. Die Gründe sind, wie oben ge­nannt, vielschichtig. Häufig sehen wir aber auch Mischformen, oder die Ge­waltdynamiken werden etwa durch eine Borderline­-Störung, eine geringe Frustrationstoleranz oder eine ver­minderte Fähigkeit zur Selbstkontrolle beeinflusst.

Bleiben wir bei eskalierenden Konflik­ten: Wie verläuft die Gewaltspirale in solchen Situationen?
Wie ich von meinen Kursteilnehmern höre, sind die Auslöser oft Kleinigkei­ten, die sie gar nicht mehr benennen können. Es kann ein Streit ums Handy sein, um die Erziehung der Kinder oder die Haushaltsführung. Oft aber stecken grundsätzliche Themen dahin­ter wie Treue, Eifersucht, finanzielle Probleme oder auch Konflikte mit den jeweiligen Herkunftsfamilien. Das Paar reibt sich in solchen Streitigkei­ten an seinen unterschiedlichen Mei­nungen auf, bis der Konflikt eskaliert. Beim ersten Mal fliegt dann vielleicht eine Kaffeetasse zu Boden.

Ich habe mal vor Wut auf meinen Part­ner einen Porzellankrug auf den Kü­chenboden geschmissen. Es blieb zwar bei diesem einen Mal. Trotzdem: Es war ein Akt der Gewalt, nicht?
Jede Gewaltanwendung, sei es körper­liche Gewalt oder Sachbeschädigung, hat ein Ziel: die emotionale Befreiung. Bei Ihnen war klar: Der Krug ist die Grenze. Hat die keine Wirkung, gehen Sie nicht weiter. Das heisst, Sie haben die Fähigkeit, mit der Wut umzugehen. Aber eine andere Person würde beim nächsten Mal den Partner oder die Partnerin vielleicht schubsen, an­schreien oder beleidigen. Bezeichnend ist, dass in dieser Situation beide über­fordert sind, denn sie sehen sich mit Denk- ­und Verhaltensmustern kon­frontiert, die sie sich in ihrer Beziehung nie hätten vorstellen können. Daraus erwächst häufig ein grosses Schamge­fühl. Das Paar fragt sich: «Wie konnte das passieren?»

Wird dann die Versöhnungsphase aus­löst?
In der Regel ja. In dieser Wiedergut­machungsphase fühlt sich das Paar in seine Honeymoon ­Zeit zurückversetzt– bis dann ein neuer oder der alte, noch nicht geklärte Konflikt wieder auf­bricht. Dieser Kreislauf dreht sich im­mer schneller, die Konflikte werden immer heftiger. Das grosse Scham­gefühl bei eskalierenden Konflikten macht es für beide schwierig, Anzeige zu erstatten. In diesen Fällen geschieht es eher, dass aussenstehende Personen, etwa die Nachbar:innen, die Polizei ru­fen. Doch wenn die Polizei kommt, und die Personen keine verwertbaren Aus­sagen machen, passiert nichts.

Gemäss Erfahrungsberichten von Frauen sollen gewalttätige Männer aber geradezu Meister darin sein, den Konflikt vor der Polizei herunterzu­spielen – und die glaubt ihnen in der Regel dann auch.
Das sehe ich nicht so. Bei polizeilichen Einvernahmen vor Ort werden beide Parteien stets einzeln befragt. Männer flüchten sich dabei zwar häufig in eine Neutralisierungsstrategie; das heisst, sie versuchen ihre Taten zu verharm­losen – «ich mache so was sonst nie, es war nur, weil ich etwas getrunken hatte» –, um sich zu schützen oder um Strafmassnahmen zu entgehen. Doch herausreden können sie sich nicht. Die Polizei nimmt die Aussagen der Ge­schädigten sehr sorgsam zu Protokoll. Nicht selten wird Tätern nur schon aufgrund von Drohungen ein Kontakt­verbot auferlegt.

Sie betonen, dass sich die Gewalt­spirale auch aufgrund fehlender Kon­fliktlösungsfertigkeiten weiterdreht. Wie ist das zu verstehen?
In eskalierenden Situationen sind beide Konfliktparteien an der ausblei­benden Deeskalation beteiligt. Ich höre in meinen Beratungen oft, dass in solchen Situationen beide Recht behal­ten wollen und dem anderen nichtmehr zuhören. Das macht sie unfähig, den Konflikt auf respektvolle Art und Weise zu klären. Sie könnten sich zum Beispiel sagen: «Wir kommen nicht mehr weiter. Lass uns unterbrechen, wir gehen spazieren und reden eine Stunde nicht darüber.» Doch das schaffen sie nicht, weil sie sich darin festgebissen haben, die andere Person von ihrer Haltung zu überzeugen.

Es heisst, dass die Gewalt in situati­ven, eskalierenden Konflikten nicht nur einseitig, sondern oft auch gegen­seitig oder wechselseitig ausgeübt wird. Bedeutet das, dass beide Parteien, in den meisten Fällen also auch die Frau, an der Gewaltspirale beteiligt sind?
Ja, das ist so. Wir sehen, dass in diesen Konflikten das Geschlechterverhält­nis der Gewaltausübenden ausgegli­chen ist. Mehr noch: In der ganzen Summe der Gewalt in Paarbeziehun­gen wenden Frauen ähnlich viel Ge­walt an wie Männer. Es ist eine un­glaublich komplexe Situation – auch deshalb, weil es sich oft kaum feststel­len lässt, wer wann die Grenzen über­schritten oder wo die Gewaltspirale begonnen hat.

Aber irgendwo beginnt sie doch.
Klar, aber die Frage ist: Ab wann ist eine Handlung Gewalt? Ist es zum Beispiel schon Gewalt, wenn ich das Handy des anderen checke? Oder wenn die eine Person vor Wut etwas auf den Boden wirft und von der anderen geschubst oder festgehalten wird? Oder wenn die Frau ihren Partner jedes Mal beschimpft, wenn er eine Viertelstunde zu spät nachhause kommt, und ihm eine Fremdbeziehung unterstellt?

Gewalttaten wie Schubsen, Festhalten und Schlagen haben aber unterschiedliche Auswirkungen, je nachdem, ob sie vom Mann, der in den meisten Fällen körperlich überlegen ist, oder der Frau begangen werden.
Das ist in der Regel so, ja. Frauen, die Gewalt erfahren, stellen ihre Beziehung deshalb immer infrage. Männer, deren Partnerinnen gewalttätig sind, tun dies hingegen sehr viel weniger. Sie zeigen ihre Frau auch seltener an. Das mag mit der Scham und dem gesellschaftlichen Stigma zu tun haben, dem männliche Opfer von häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Aber auch damit, dass Männer die Gewalt, die sie in der Beziehung erleben, tendenziell als weniger schlimm einschätzen.

Gemäss der Kriminalstatistik aus dem Jahr 2021 sind rund 75 Prozent der Gewaltausübenden in Paarbeziehungen Männer, ein Viertel Frauen. Die Gewalt von Frauen wird jedoch kaum thematisiert. Warum?
Studien zeigen, dass Fachpersonen wie auch die von häuslicher Gewalt Betroffenen selbst, Männer- und Frauengewalt unterschiedlich beurteilen: Die Gewalt von Frauen wird nicht als gleichwertig eingestuft. Frauengewalt wird gesellschaftlich auch weniger streng verurteilt, sondern eher verniedlicht, nicht selten sogar zelebriert. Ein Indiz hierfür ist, dass in der Werbung immer wieder Szenen zu sehen sind, in denen eine Frau Gewalt gegen den Mann anwendet. Umgekehrt würden solche Grenzüberschreitungen sofort die Alarmglocken schrillen lassen. Und das zu Recht.

Mit anderen Worten, Sie plädieren in Bezug auf die häusliche Gewaltausübung für eine gleichberechtigtere Sichtweise?
Nicht, wenn es um patriarchale Gewalt geht. Da braucht es Intervention und Opferschutz. Hingegen würde sich bei systemischen Konflikten eine andere Sichtweise lohnen. Eine Sichtweise, die über die Viktimisierung der Frauen hinausgeht und eher darauf fokussiert, welche Hilfestellung das Paar braucht, damit die Gewalt aufhört. Ich höre von vielen Frauen, dass sie sich in einer Opferberatung nicht wohl fühlen, sondern sich eine differenziertere Herangehensweise wünschen. Hier sind auch die Fachstellen gefordert. In der Täterarbeit versuchen wir genau das zu tun. Wir wollen mit den Teilnehmenden schauen, dass es nicht mehr passiert.

Sie sagen, die Männer müssten lernen, die Verantwortung für ihre Gewalt zu übernehmen. Wie gehen Sie da vor?
Zu Beginn des Programms geht es in erster Linie um Deliktreflexion. Dafür haben wir sogar ein Lehrbuch. Die Männer sind gefordert, ihre Gewalt zu ref lektieren, Fragen zu beantworten wie: «Was ist in meiner Beziehungssituation schwierig?» «Wie ist die Gewalt zustande gekommen?» «Was wollte ich in den Momenten des Konflikts erreichen?» «Wie ging ich damit um?» Daraus entsteht mit der Zeit ein Selbstbild, das die eigene Verantwortung erkennbar macht.

Das ist ein selbstanalytischer Parforceakt. Wie schieben Sie den an?
In der ersten Sitzung geht es darum, sich der Gruppe zu präsentieren. Die Teilnehmer erhalten Holzklötzchen, mit denen sie ihr Familiensystem aufstellen, die Distanz oder Nähe zur Partnerin und allenfalls auch zu ihren Kindern markieren sollen. Wir fordern sie auf, von sich zu erzählen, während sie die Klötzchen aufstellen, und bitten sie dafür einzeln nach vorn. Das läuft in der Regel sehr gut. Die grössere Hürde ist der zweite Abend. Dann müssen uns die Teilnehmenden sagen, warum sie da sind: Was wird ihnen vorgeworfen und was geben sie zu?

Schaffen das alle auf Anhieb?
Nein, manche sind komplett überfordert und blocken ab. Ich hatte einmal einen Teilnehmer, der wollte partout nicht einsehen, weshalb er an einem Lernprogramm teilnehmen musste. Er sagte, er sei zwanzig Kilo leichter als seine Frau, sie hätte ihn x-mal geschlagen, während er ihr nur gedroht hätte. Er verstand nicht, dass auch Drohungen ein Gewaltvergehen sein können. Es gibt auch immer wieder Personen, die sagen, sie hätten keine andere Wahl gehabt, als zuzuschlagen. Viele sind auch davon überzeugt, dass ihre Frau sie zu Unrecht der Gewalt bezichtigt – man würde aber ungerechterweise nur ihr Glauben schenken. Das höre ich sogar von rund achtzig Prozent der Männer. Als Begründung dafür, weshalb die Frau lügen sollte, kommen Aussagen wie: «Sie will, dass ich ausgeschafft werde» oder: «Sie hat einen anderen Partner und will mich loswerden.»

Was tun Sie in solchen Fällen?
Ich weise sie darauf hin, dass es aufgrund ihrer Gewalttaten ein polizeiliches Verfahren gegeben hat. Und fordere sie auf, sich zu überlegen, wie sie von diesem Lernprogramm profitieren können. Manchmal stelle ich auch einfach die Frage: «Warum sind Sie denn bei Ihrer Frau geblieben?» Häufig kommt dann: «Weil ich sie liebe.» Ich kontere: «Sie lieben Ihre Frau mehr als Ihre Freiheit und gehen dafür in Untersuchungshaft?» Das erzeugt oft einen Überraschungsmoment, in dem ich die Person erreichen kann. Denn erreiche ich sie nicht, kann ich nicht mit ihr arbeiten.

Wie viel Widerstand schlägt Ihnen in diesem Prozess entgegen?
Oft ziemlich viel – gerade in der Anfangsphase. Die Teilnehmenden sind auch uns gegenüber misstrauisch, checken erst ab, wie wir ticken und mit ihnen umgehen. Wir sagen klar: «Die Gewalt ist nicht okay, wir versuchen aber, sie als Person wahrzunehmen und sie zu verstehen.» Schwierig sind jene, die von A bis Z Widerstand leisten und sagen, sie hätten gar keine Beziehungsprobleme oder sie hätten keine Probleme, es liege alles an ihrer Frau. Wenn sie nicht in den Prozess einsteigen, kann man nicht mit ihnen arbeiten.

In solchen Situationen spielt wohl auch die Angst vor Gesichtsverlust mit.
Natürlich, aber diese Angst nimmt in der Regel mit den Sitzungen ab. Nach der sechsten Sitzung lockert sich die Stimmung auf, einige Männer wagen es, sich zu öffnen. Nach zehn, zwölf Sitzungen sind die allermeisten dabei. Denn sie machen eine für sie neue Erfahrung: Mit anderen Männern über persönliche Sachen zu reden, ohne verurteilt oder ausgelacht zu werden.

Das heisst auch reden über Ängste und Verletzungen?
Genau. Wenn etwa hinter der Eifersucht die Angst steckt, die Partnerin zu verlieren. Sie erleben, wie gut das tut, das aussprechen zu können. Die Gruppe hat auch den Vorteil, dass sich die Teilnehmer gegenseitig ein Stück weit helfen können. Sie hören oft besser hin, wenn einer aus der Gruppe etwas sagt, als wenn es der Programmleiter tut. Manchmal gibt es sogar Situationen, in denen wir lachen können. Das ist gut. Denn auch Humor ist eine Kompetenz, zu spüren, wann Lachen angebracht ist und wann nicht.

Ein Credo der Lernprogramme lautet, sich grundsätzlich immer den Einzelfall anzusehen. Was heisst das genau?
Über allem steht die Frage: «Was braucht er, damit er es nicht wieder tut?» Ausgehend davon ergründen wir: Welche Persönlichkeitsmerkmale hat der Betreffende? Hat er eine gewaltfördernde Weltanschauung? Einen Dominanzanspruch? Wie geht er mit Alkohol und Drogen um? In der Halbzeit des Lernprogramms konfrontieren wir die Teilnehmenden in Einzelgesprächen mit unserem Aussenblick, geben ihnen Feedback oder neue Fragestellungen. Zum Beispiel: «Sie sollten Ihre Impulskontrolle verbessern» oder «Was wäre aus Ihrer Sicht eine Möglichkeit, damit sich die Situation verändert?» Aus diesem Gespräch berichten die Teilnehmer auch in der Gruppe.

Stichwort Konfliktlösungsstrategien mit der Partnerin. Wie werden diese trainiert?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Frauen provozieren ihren Partner oft mit Aussagen wie: «Du bist ein Schlappschwanz» oder: «Du bist kein richtiger Mann». Für diese Provokationen trägt die Partnerin eine hundertprozentige Verantwortung. Aber egal, wie sehr sie ihn provoziert, die Reaktion des Mannes liegt zu hundert Prozent in seiner Verantwortung. Die meisten Männer, die ich in den Lernprogrammen sehe, reagieren nach dem Muster: «Wenn ich provoziert werde, muss ich mich wehren.» Dass sie auch ganz anders reagieren können, ist für viele gar nicht denkbar. Wir versuchen, diese Einsicht zu fördern und üben sie in der Praxis.

Das bedeutet konkret?
Wir geben den Männern zum Beispiel die Aufgabe, zu trainieren, eine Konfliktsituation zu verlassen. Damit das funktioniert, gilt es, das Vorgehen erst mit der Partnerin zu besprechen: Was bedeutet das Time-out? Wann nehme ich es? Wohin oder zu wem gehe ich? Wie lang bleibe ich weg? Und wie machen wir danach weiter? Es ist wichtig, dass diese Absprache für den Notfall für beide stimmt. Denn die Partnerin mag es vielleicht gar nicht, dass er zu einem bestimmten Kollegen geht. Die Männer bringen dann ihre Erfahrungen in die Gruppe mit. Auf diese Weise erhalten wir einen Einblick in den Alltagstransfer.

Nach vier Monaten Arbeit brechen die letzten Minuten des Lernprogramms an. Wie verabschieden Sie sich von den Teilnehmenden?
Es gibt Chips, Nüssli und Orangensaft. Zum Schluss erkläre ich, dass jetzt der Moment gekommen sei, in dem jeder für sich das Perron verlassen und in den Zug steigen müsse. Manchmal verwende ich auch das Bild einer Bergtour: Wir hätten eine lange Wanderung hinter uns, die durch Schluchten und Nebel auf die Bergspitze geführt habe. Jetzt müsse jeder für sich den Abstieg wagen, und das sei der gefährlichste Weg. Die meisten Teilnehmer lassen sich auf diese Bilder ein und nehmen sie sehr ernst. Sie sind danach aber nicht entlassen. Wir bieten sie nach je drei, sechs und neun Monaten wieder zu Einzelgesprächen auf, um zu prüfen, ob und wie das Erlernte funktioniert.

Immer wieder wird moniert, dass gewalttätige Männer zu mild bestraft werden. Ein Lernprogramm für häusliche Gewalttäter könnte in der Tat als eine zu milde Strafe angesehen werden. Ihre Haltung dazu?
Die Frage ist: Wann ist die Strafe wirkungsvoll? Wie kann man verhindern, dass so ein Delikt nicht wieder geschieht? Über 99 Prozent der Strafen sind endliche Strafen. Das heisst, die Täter kommen irgendwann wieder frei. Aus diesem Grund ist es für Staat und Gesellschaft wichtig, dass die Täter nicht wieder dieselben Delikte begehen. Und hierfür ist nicht die Strafdauer ausschlaggebend, sondern die Art, wie gestraft wird. Ein Lernprogramm oder eine Therapie senken die Rückfälligkeit (siehe Box). Zudem werden die betreffenden Personen nicht aus bestehenden Strukturen, aus Familie und Arbeit, herausgerissen. Das schont das Familiensystem: Im Rahmen der häuslichen Gewalt ist die geschädigte Person in den meisten Fällen weniger daran interessiert, dass der Täter bestraft wird, sondern dass die Gewalt aufhört. Da viele Paare trotz allem zusammenbleiben, kann sich eine Strafe verheerend auswirken, sei es in finanzieller Hinsicht oder in Bezug auf die Kinder. Deshalb lohnt es sich, mit Augenmass zu strafen.

Von der Politik wird gefordert, mehr gegen häusliche Gewalt in der Schweiz zu tun. Was fordern Sie?
In Anbetracht der pandemischen Ausmasse der häuslichen Gewalt und der Zahl der Femizide plädiere ich dafür, schon im Schulalter mit der Prävention zu beginnen. Viele Menschen lernen Konflikte mit Geschwistern oder auf dem Pausenplatz auszutragen, aber oft genügt das nicht. Konfliktlösungskompetenz sollte als Schulfach eingeführt, thematisiert und geübt werden. Und wenn die Kinder etwas lernen, bringen sie das Gelernte auch in die Familie zurück. Das könnte eine grosse Wirkung haben.

Verzweifeln Sie manchmal an den Männern?
Nein, gar nicht. (lacht) Das Frauengenauso wie das Männerbild hat sich dank des Feminismus stark gewandelt. Und das war bitter nötig. Wenn ich das Rollenverständnis meiner Eltern aus der Zeit meiner Kindheit mit dem vergleiche, das heute herrscht, ist das komplett etwas anderes. Noch fühlen sich aber viele Männer durch diesen Wechsel überfordert.

Was wünschen Sie sich für den Mann von heute?
Eine neue Identität, die darin gründet, dass dieser übermenschliche Anspruch an Männer, alles unter Kontrolle zu haben, und die Kraft, alles zu richten, auf ein normales Mass heruntergebrochen wird. Und ich wünsche mir, dass sich das Rollenbild des Mannes mit jenem der Frau mitbewegt, so dass daraus etwas Gemeinsames entstehen kann. Ich orte heute eine Parteilichkeit, die gegeneinander ausgespielt wird: Die Männer suchen einen Weg für sich, die Frauen einen für sich – und das erstickt jeglichen Dialog.

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