Kennst du Präsentismus? Er kostet uns jährlich Milliarden

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watson.ch – Larissa Speziale – 

Die Belastungen am Arbeitsplatz steigen. Das zeigt der Job-Stress-Index von Gesundheitsförderung Schweiz. Die Konsequenz: Die berufliche Leistung nimmt ab. Ein Desaster für Arbeitgeber und Angestellte. Was schafft Abhilfe?

Vielleicht kennst du die Situation: Du hast eine intensive Phase bei der Arbeit hinter dir. Du musstest mehrere Wochen Vollgas geben. Nun ist es ruhiger, aber du fühlst dich ausgelaugt.

Der Druck ist zwar weg. Trotzdem sitzt du unbefriedigt da und machst nicht viel, bist unproduktiv. Die Luft ist raus. Stell dir nun vor, die intensive Phase dauert Monate oder Jahre. Das kann dazu führen, dass plötzlich gar nichts mehr geht.

Egal wie ausgeprägt die unproduktive Phase ist, das Phänomen nennt sich Präsentismus und verursacht in der Schweiz bis zu fünf Milliarden Franken Kosten pro Jahr. Präsentismus ist in den meisten Fällen die Folge von einer zu starken Belastung. Wenn jemand ohne ersichtlichen Grund bei der Arbeit fehlt, spricht man von Absentismus. Dieser verursacht wiederum Kosten von ca. zwei Milliarden Franken. Belastungen können nicht nur krank machen, sondern führen auch zu Unfällen. Die Suva geht davon aus, dass arbeitsbedingter Stress in rund 17 Prozent der Unfälle eine zentrale Rolle spielt.

2021 fühlten sich fast 45 Prozent aller Arbeitnehmenden durch ihre Arbeit häufig gestresst.

Zwischen 2014 und 2020 sind die Belastungen bei der Arbeit gestiegen. Diesen Trend stellt der Job-Stress-Index fest. Er wird regelmässig von der Gesundheitsförderung Schweiz, der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und der Universität Bern durchgeführt. Er untersucht jeweils eine repräsentative Stichprobe von rund 3000 Erwerbstätigen. Die gleiche Tendenz stellt die Befragung «Barometer Gute Arbeit» der Berner Fachhochschule und des Dachverbandes der Arbeitnehmenden «Travail.Suisse» fest. 2021 fühlten sich gemäss dieser Erhebung fast 45 Prozent aller Arbeitnehmenden durch ihre Arbeit häufig gestresst.

Der Job-Stress-Index misst nicht nur die Herausforderungen der Arbeitnehmenden, sondern ebenso deren Ressourcen. Was jemand als Stress empfindet, ist individuell. Es ist das wahrgenommene Ungleichgewicht zwischen Arbeitsbelastungen und Ressourcen. Nina Zumstein kennt die Zahlen der Befragung in- und auswendig. Sie ist Projektleiterin «Betrieblich-es Gesundheitsmanagement» bei Gesundheitsförderung Schweiz und sieht das Problem, gleichzeitig auch viele Lösungsansätze.

 

Nina, was belastet die Arbeitnehmer:innen der Schweiz?
Nina Zumstein: Grundsätzlich ist das sehr individuell. Aber es gibt Belastungen, die wir über alle Berufsfelder hinweg feststellen. An erster Stelle steht Zeitdruck. Konflikte mit Vorgesetzten oder Mitarbeitenden sind allerdings oft noch belastender. Wie einschneidend Belastungen sind, hängt jedoch davon ab, wie viele Ressourcen man hat, um damit umzugehen.

Wie meinst du das?
Wenn man am Arbeitsplatz beispielsweise durch das Team und die vorgesetzte Person gut unterstützt wird, nimmt man Zeitdruck als weniger belastend wahr. Treten mehrere Belastungen gleichzeitig auf – zum Beispiel Zeitdruck plus Konflikte im Team – dann ist der erlebte Stress deutlich höher. Auch das Privatleben spielt eine Rolle. Läuft dort alles rund, erträgt man mehr, als wenn zu Hause die Balken schiefstehen.

Was stärkt Angestellte?
Wertschätzung spielt eine grosse Rolle, egal ob sie von Vorgesetzten, Kolleg:innen oder Kunden kommt. Der Handlungsspielraum ist ebenfalls wichtig. So lange man Dinge mitbeeinflussen kann, ist man bereit, eine gewisse Belastung auf sich zu nehmen. Wer den Sinn hinter seiner Arbeit sieht, hat ein gutes Rückgrat. Es gibt ein positives Gefühl, zu wissen, dass man etwas Nützliches tut.

Das leuchtet ein. Ich kann dies allerdings nur bedingt beeinflussen. Wie kann ich mich, unabhängig der Arbeitsbedingungen, als Arbeitnehmerin gegen Belastungen wappnen?
Sehr wichtig ist, dich selbst gut zu kennen und zu wissen, was dich belastet und was dir guttut. Eine weitere Präventionsmassnahme ist, darauf zu achten, dass du genug Erholung hast. Du sollst, wenn möglich, während dem Tag Pausen machen. Nach der Arbeit gilt es, den Kopf durchzulüften, abzuschalten, dich zu entspannen. Sport, Genuss oder gute Gespräche können genauso erholsam sein.

Und was mache ich, wenn ich mich gestresst fühle?
Zuerst musst du herausfinden, was dich genau stresst. Danach kannst du dir überlegen, was du ändern kannst. Und dann musst du es in die Hand nehmen. Es ist wichtig, die Zeichen wahrzunehmen und zu reagieren. Hast du zu viel Arbeit? Rede darüber und fordere Hilfe ein. Beides fällt uns Schweizern schwer. Dabei hilft es sehr, über Belastungen zu sprechen. Dadurch ist man weniger allein damit. Fühlst du dich zu wenig wertgeschätzt? Überlege dir, wie du andere wertschätzend behandeln könntest. Oft löst dies eine positive Spirale aus. Fühlst du dich fachlich überfordert? Dann hilft vielleicht eine Weiterbildung.

Was demotiviert?
Wenn man den Sinn hinter einer Aufgabe nicht sieht. Das ist oft bei Leerläufen oder administrativen Tätigkeiten der Fall. Ein aktuelles Beispiel aus der Pflege: Die meisten Pflegefachpersonen machen ihren Job, weil sie den Patientenkontakt schätzen. Weil der administrative Aufwand grösser geworden ist, bleibt ihnen dafür weniger Zeit. Der grösste Motivationskiller ist ein schlechtes Verhältnis mit der vorgesetzten Person. Es gibt Studien (z. B. die internationale Gallup-Befragung), die zeigen, dass bei 75 Prozent der Kündigungen die Beziehung zur vorgesetzten Person eine Rolle gespielt hat.

Wie bleibt man motiviert und produktiv?
Der Job selbst kann eine sehr tolle Ressource sein. Man lernt Neues, hat soziale Kontakte, Erfolgserlebnisse, eine Tagesstruktur und macht etwas Nützliches. Damit die Arbeit wirklich guttut, musst du den Sinn hinter deiner Arbeit sehen. Eine Studie der Universität Zürich zeigt, dass dies dann der Fall ist, wenn man seine eigenen Stärken einsetzen kann. Hier gilt wieder: Wer sich selbst kennt, weiss, welche Stärken sie oder er hat. Wenn du diese ganz bewusst bei der täglichen Arbeit einsetzt, kannst du nur gewinnen.

Der Originalartikel auf watson.ch 

Bildquelle: illustration: fh schweiz/flavia korner

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