Junge oder Mädchen?

Fokus

Verein „geschlechtergerechter“ – Lynn Blattmann – 

Heute stellen wir früh sicher, dass man sofort sieht, ob es sich bei einem Kleinkind um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Das war nicht immer so.

Ein Kind blickt mit offenem klaren Blick in die Kamera, der Mund ist geschlossen, er verrät Kraft und viel Willen. Das Kind hat blonde, kurze Haare in der Hand trägt es einen Puppensoldaten in roter Husarenuniform. Es ist ein Junge, oder?

Unsicher schaue ich auf die Bildlegende des wunderschönen Gemäldes von Albert Anker. Dort steht: «Mädchen mit Hampelmann, Marie Anker 1875».

Ich schaue das Bild noch einmal an. Was für ein starkes, waches und keckes kleines Mädchen. Ich hätte unserem Nationalmaler gar nicht zugetraut, dass er in einem kleinen Mädchen so viel Stärke sehen und malen kann.

Doch Albert Anker wusste was er tat. Der Schweizer Maler hatte nämlich selbst sechs Kinder und er hat sehr gerne kleine Menschen gemalt. Von den 600 Bildern seines Lebenswerks waren auf rund 250 Gemälden Kinder abgebildet.

Aus heutiger Sicht erstaunt die Individualität, die er in den Babies gesehen hat, ihre Kraft und wie genau er hingeschaut hat beim Malen.

Als Babies noch kein Geschlecht hatten

Auch dieses Kinderbild könnte aus einem Familienalbum stammen, es hat etwas von einem Schnappschuss. Ein Baby sitzt im Kinderstuhl, in der rechten Hand hält es eine Rassel, vor dem Kind liegt eine gestrickte Puppe mit rotem Kleid, das Kind steckt in einem weissen Rüschenkleid. Weil unsere Wahrnehmung sofort entscheiden muss, ob es sich bei dem kleinen Menschlein um ein weibliches oder männliches Wesen handelt, sehen wir auf dem Bild ein kleines süsses Mädchen, das munter in die Welt hinaus schaut.

Weit gefehlt. Bei diesem Bild handelt es sich nicht um einen Schnappschuss sondern um ein sorgfältig komponiertes Ölbild von Albert Anker, er hat dies auf die Leinwand gepinselt im Jahr 1892 im reifen Alter von 61 Jahren. Ja, und was man dem als süsslich verschrieenen Maler aus dem Seeland gar nicht zugetraut hätte: Er hat gemalt, was er sah und nicht was wir heute sehen wollen. Auf dem Bild ist kein kleines Mädchen zu sehen, sondern Charles de Perregaux im Kinderstuhl, wie der Name des Bildes vermerkt.

Es ist fast beschämend, wie anders wir heute kleine Kinder anschauen als noch vor 130 Jahren als das Gemälde entstand.

Damals musste man Säuglinge noch nicht mit martialischem Spielzeug oder Matrosenanzügen ausstatten um sie männlich aussehen zu lassen, Babies wurden im 19. Jahrhundert noch nicht zu Knaben oder Mädchen gemacht, sie durften noch geschlechtslos sein, unschuldige Kinder eben.

Neben diesem Spätwerk entstand schon 25 Jahre früher ein Bild eines kleinen Kindes im Kinderstuhl von Albert Anker, auch dieses Kind erst wenige Monate alt, gekleidet in eine Art rotem Rock mit einer hellen gestrickten Haube auf dem Kopf. Auch bei diesem Baby hätte ich auf ein kleines Mädchen getippt. Wieder falsch. Das hellblonde kleine Geschöpf mit der Rassel in der Hand und der rot bemützten Puppe auf der Seite, entpuppt sich als Kinderbild von Emile Roux. Wahrscheinlich war es nicht der Emile Roux, der später als Weggefährte von Louis Pasteur berühmt wurde und viel erreicht hatte im Kampf gegen die Diphterie, denn der später berühmte Forscher war bereits 14 Jahre alt, als das Bild entstand.

 

Die Kinderbilder von Albert Anker berühren uns heute noch. Beim Betrachten fragt man sich, was wohl aus den kleinen Menschlein geworden ist, die als Kinder schon so viel Kraft und Würde ausstrahlten und die am Anfang ihres Lebens so gar kein erkennbares Geschlecht hatten. In diesem Sinne war Anker tatsächlich ein moderner Maler.

Lynn Blattmann ist Mitglied der Redaktion #geschlechtergerechter

Der ganze Artikel mit Bildergalerie

 

Bild: Albert Anker, Marie Anker 1875 – Bundesamt für Kultur

 

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