«Häusliche Gewalt fängt nicht mit einem Faustschlag an»

Fokus

HAUPTSTADT – Marina Bolzli

Niederschwellig und mit Fragebogen: Ein schweizweit neues Online-Tool will toxische Beziehungen und häusliche Gewalt bekämpfen. Wie funktioniert das? Und was sagen von Gewalt Betroffene dazu?

Laut Statistiken kommt es in der Schweiz jede Woche zu einem Tötungsversuch in der Familie, alle zwei Wochen stirbt eine Person. Gemäss dem aktuellsten Geschäftsbericht der Berner Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt musste die Polizei im Kanton Bern letztes Jahr in 1449 Fällen häuslicher Gewalt intervenieren. Die meisten Fälle von häuslicher Gewalt werden allerdings nicht erfasst, die Dunkelziffer ist sehr hoch, laut Studien schweigen drei von fünf Opfern. Stellvertretend für die schweigende Mehrheit soll in diesem Text Jasmin stehen. Sie heisst in Wirklichkeit anders und wohnt in einem Dorf im Kanton Bern. Sie hat unter Zusicherung ihrer Anonymität mit der «Hauptstadt» über ihre frühere Beziehung geredet.

 

«Alles fing schön und gut an. Wir kannten uns schon lange, waren aus demselben Dorf. Als wir zusammenkamen, war ich 26 Jahre alt. Ich hatte einen kleinen Sohn aus einer früheren Beziehung. Alles war super. Aber ich merkte bald, dass er sehr eifersüchtig war. Er nahm heimlich mein Handy, behauptete, ich würde andere Männer treffen. Ich bot ihm an, dass wir zusammen meine Chats auf dem Handy anschauen könnten. Er wollte mich immer unter Kontrolle haben. Zum Beispiel schrieb er mir eine Nachricht, wo ich sei. Wenn ich nicht sofort antwortete, kamen Schuldzuweisungen.»

 

Jasmin ist eine von Gewalt Betroffene, die mitgeholfen hat, eine technische Lösung gegen toxische Beziehungen und häusliche Gewalt zu erarbeiten. Lanciert wurde das Projekt unter dem Motto #withyou von Tech Against Violence, einem Spin-Off der Frauendachorganisation Alliance F.

Was schwierig klingt, mutet im Internet ganz leicht an. Dort findet sich seit wenigen Wochen ein Fragebogen mit 15 Fragen. Er erinnert in der Aufmachung ein bisschen an die Psychotests aus alten Teenie-Zeitschriften. Die erste Frage fängt ziemlich harmlos an:

«Bist du unsicher, wie du mit deinem Partner oder deiner Partnerin kommunizieren sollst, aus Nervosität/Angst wie er/sie reagieren wird?»

Hm. Das hat es wohl auch schon gegeben. Die Antwort «Ja, ab und zu» würden wohl einige von uns anklicken. Bei der 15. Frage jedoch sind wir bereits weit von der Normalität entfernt:

«Hat dein:e Partner:in auch schon Dritte verletzt? (z.B. Kinder, Haustiere, Freunde, Familie)»

Wer hier Ja anklickt, weiss vermutlich, dass er oder sie handeln sollte. Mit einem weiteren Klick kann man sich danach an eine Opfer-Hilfsorganisation wenden. In Zukunft soll es auch die Option geben, dass die Beratungsstelle sich bei der betreffenden Person meldet, so dass auch die Hürde des Anrufens wegfällt.

Die Macherinnen des Fragebogens haben dabei eng mit Opfer-Hilfsorganisationen und Betroffenen wie zum Beispiel Jasmin zusammengearbeitet, wie Geschäftsleiterin Simone Eymann und ihre Stellvertreterin Miriam Steffen in ihrem Büro in der Länggasse erzählen. «Häusliche Gewalt fängt nicht mit einem Faustschlag an», sagt Miriam Steffen. «Die Gewalt folgt meistens dem gleichen Muster.»

Zuerst komme es zu emotionaler Gewalt, oft subtil. Schleichend. «Wenn ein Partner sehr eifersüchtig ist, empfindet man das am Anfang noch als Kompliment», sagt Simone Eymann. Doch solche ungesunden Dynamiken böten den Nährboden für spätere häusliche Gewalt. Das würden auch die Opferberatungsstellen bestätigen. Diesem Muster folgt auch der Fragebogen, er bewegt sich von subtilen Zeichen über ausgeübte psychische Gewalt bis zu physischer Gewalt.

 

«Wir wollen eine Lücke schliessen.» Simone Eymann, Geschäftsführerin Tech Against Violence

 

Nun klingt ein Fragebogen nicht gerade nach einem revolutionären Mittel, um häusliche Gewalt zu bekämpfen. «Wir wollen eine Lücke schliessen», sagt Simone Eymann. Denn in der Schweiz gebe es bisher noch kein Mittel, wie sich Betroffene niederschwellig Hilfe holen könnten. «Wir wollen das Bindeglied zwischen den Betroffenen und Opferberatungsstellen oder der Polizei sein.» Zumal viele immer noch zögerten, direkt Kontakt mit einer Beratungsstelle aufzunehmen. Obwohl es sie geben würde. So hat der Kanton Bern die Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt, die auch mit einer Website präsent ist, wo wiederum auf verschiedene Hilfsangebote weiterverwiesen wird.

 

«Es gab viele Momente, in denen ich dachte, jetzt reicht es. Aber dann sagte er, du hast mir doch versprochen, dass ich immer auf dich zählen kann. Er brachte mir Blumen, schrieb mir Briefe. Also blieb ich bei ihm. Ich googelte viel, hätte mich gerne ausgetauscht. Ich hätte gerne gewusst, was ich machen könnte. Wenn es damals eine Plattform wie #withyou gegeben hätte, hätte mir das enorm geholfen.»

 

«Während der Arbeit am Projekt haben wir gemerkt, dass wir alle schon in toxischen Beziehungen gelebt haben – oder Bekannte haben, die solche Beziehungen führen», sagt Simone Eymann. So habe sie selbst realisiert, dass sie schon Opfer von Gaslighting geworden sei. Dieser Begriff bezeichnet eine Form von psychischer Gewalt, bei der die Opfer so stark durch Lügen und Einschüchterungstaktiken manipuliert werden, dass sie anfangen, an ihrem eigenen Verstand zu zweifeln. Bei Eymann war es ein Ex-Freund, der im Restaurant behauptete, sie habe mit dem Kellner geflirtet. «Ich hatte den Kellner nicht einmal angeschaut, aber am Schluss dachte ich selber, dass ich wohl geflirtet hätte.»

 

«Ich veränderte mich, distanzierte mich von Freundinnen, ging nicht mehr aus. Denn es hat mich belastet: Immer wenn ich etwas ohne ihn unternehmen wollte, gab es Streit. Immer gab er mir die Schuld. Ich wusste, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass das nicht normal ist. Aber ich blendete es aus. Denn ich liebte ihn, und es gab immer wieder Momente, in denen wir es wunderschön zusammen hatten.»

 

Seit die Website #withyou von Tech Against Violence lanciert wurde, haben die Macherinnen viele Reaktionen erhalten. «Frauen danken uns, wollen mithelfen, manche suchen auch Hilfe», erzählt Simone Eymann. Eine Person, die Hilfe sucht, leitet das Team sofort an eine Beratungsstelle oder ein Frauenhaus weiter. «Technologie hat Grenzen», sagt Geschäftsleiterin Eymann, «am Schluss steht immer das persönliche Gespräch.» Das noch junge Unternehmen Tech Against Violence kann den Kontakt zwischen Betroffenen und Hilfsangeboten herstellen, mehr nicht. «Im Idealfall bekommen die Opferberatungsstellen mehr Arbeit durch uns», sagt Miriam Steffen. Es ist ein Satz, den sie ernst meint, und gleichzeitig ist ihr klar, wie paradox er klingt.

 

«Einmal rastete er total aus, zerstörte den Kindersitz, schmiss mein Handy zu Boden. Ich flüchtete zu meiner Familie. Sie hatten Angst um mich. Mein Vater wollte mich nicht mehr rauslassen. Er wollte mich beschützen, aber ich fühlte mich eingesperrt, kontrolliert. Ich hatte damals das Gefühl, nur mein Partner verstehe mich, und der nutzte das aus, mischte sich ein, sagte, meine Familie könne mich doch nicht einsperren.»

 

Angehörige werden in einer speziellen Sektion auf der Website angesprochen. Denn häufig wissen auch sie nicht, wie sie reagieren sollen. Ob sie überhaupt reagieren sollen. So wird zum Beispiel darauf hingewiesen, dass es viel Geduld brauche und dass die Konfrontation möglichst vermieden werden solle.

 

Tech Against Violence will sich in Zukunft weiterentwickeln. Als nächstes steht die Entwicklung einer Speichermöglichkeit an, in die Beweise der Gewaltausübung hochgeladen werden können. Aus einem einfachen Grund: «Häufig folgt in toxischen Beziehungen nach schlimmen Ereignissen wieder eine so genannte Honeymoon-Phase, in der Beweise oft gelöscht werden», sagt Miriam Steffen. Das Unternehmen folgt dabei der grösstmöglichen Sicherheit, speichert aber – wie auch beim Ausfüllen des Fragebogens – keine persönlichen Daten. «Dass wir nichts speichern, ist wichtig für das Vertrauen der Betroffenen», sagt Miriam Steffen.

Nun steht aber erst eine Kommunikationsoffensive an. Damit Betroffene und ihre Angehörigen überhaupt erfahren können, dass es dieses Angebot gibt. Dazu wird das Team von Tech Against Violence in den nächsten Monaten an Festivals und in Clubs anwesend sein.

Und Jasmin? Ihr geht es heute gut.

«Wir waren vier Jahre mit Unterbrüchen zusammen. Erst als er mich vergewaltigte, handelte ich. Aber diesmal ging ich nicht mehr zur Dorfpolizei, wie bei einem früheren Mal, ich ging direkt zur Kantonspolizei.

Eine Freundin bestärkte mich, sie sagte: ‹Egal, ob ihr in einer Beziehung gewesen seid oder nicht, das war eine Vergewaltigung›. Insgesamt wurde ich von der Polizei neun Stunden befragt. In diesem Frühling kam es endlich zum Gerichtsverfahren. Er ist verurteilt worden. Es ging um Tätlichkeiten, Körperverletzungen, Hausfriedensbruch, Vergewaltigung. Er hat mir das Schlüsselbein gebrochen, das Kahnbein. Diese Zeit wird immer Teil meines Lebens sein.

Aber ich bin dadurch stärker geworden. Ich kann gut darüber reden. Und wenn ich jemandem helfen kann, dann tue ich das. So habe ich einige in meinem Umfeld, die psychische Gewalt erlebt haben. Ich mache sie darauf aufmerksam. Natürlich glauben sie es zuerst nicht. Aber eine Freundin hat sich jetzt getrennt und keinen Kontakt mehr zum früheren Partner. Es müssen nicht alle den Weg gehen, den ich gehen musste.»

 

Der Artikel von Marina Bolzli

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