Giulia Steingruber: «Sorry, ich bin doch nicht zum Pizza holen da!»

Fokus

Aargauer Zeitung – Etienne Wuillemin

Giulia Steingruber ist die erfolgreichste Kunstturnerin der Schweiz. Wie sieht ihr Leben nach dem Rücktritt aus? Im Interview spricht sie über ihren neuen Job, über ihre Harley-Davidson und Familienpläne. Und sie erläutert erstmals die Umstände, die zum Ende ihrer Karriere als Trainerin geführt haben.

Kürzlich hat Amerikas Überturnerin Simone Biles ihr Comeback gegeben. Wann kehren Sie zurück?
Giulia Steingruber: Das bleibt leider weiterhin aus (lacht). Ich bin zufrieden und angekommen in meiner neuen Welt.
Es ist nun etwas mehr als zwei Jahre her, seit Sie an den Olympischen Spielen 2021 in Tokio Ihren letzten Wettkampf bestritten. Wann haben Sie innerlich zum ersten Mal gemerkt: Ich habe genug vom Spitzensport?

Ich dachte stets, nach den Olympischen Spielen in Tokio ist es dann wohl genug. Schon bevor die Verschiebung um ein Jahr wegen Corona kam. Ich kämpfte mich nach meiner Knieverletzung so lange zurück, dass für mich klar war: Dieses eine Jahr gebe ich mir noch. Obwohl es extrem schwierig war, ich merkte auch körperlich, dass ich Mühe hatte. Nach dem Wettkampf an Olympia war dann relativ schnell klar: Das war es.

Ihren Rücktritt gaben Sie Anfang Oktober 2021 – brauchten Sie noch einige Zeit, um alles zu verarbeiten?

Jetzt wird es etwas kompliziert …

Erzählen Sie!

Für mich selbst war schon während meiner Ferien im Anschluss an Olympia klar: Ich kann nicht mehr. Ich war körperlich und mental k. o. Und ich wollte auch einmal abseits meiner Ferien ein bisschen in den Tag hineinleben. Sonst hatte ich das stets nur zwei Wochen im Jahr. Doch dann begann das Chaos in Magglingen (ausgelöst durch die «Magglingen-Protokolle», Anm. d. Red.), die Trainer wurden entlassen – und es gab keinen Plan B. Also wollte ich helfen.

Wie?

Das Training musste irgendwie weitergehen. Schliesslich stand die WM an – und viele Turnerinnen, die gerne daran teilnehmen wollten. Ich sagte dem Verband, dass ich gerne helfe. Schliesslich hatte ich schon mit der Trainerausbildung begonnen und vom Turnen habe ich auch eine gewisse Ahnung. Einzige Bedingung: Ich sagte, ich möchte nicht zuständig sein fürs Sichern der Turnerinnen – das habe ich noch nie gemacht und ich kann es auch nicht. Und was passiert? Nicht viel später stehe ich alleine mit 13 Turnerinnen in der Halle.

Und hatten keine Unterstützung?

Es war alles ein bisschen zusammengewürfelt und chaotisch. Aber die Geschichte geht noch weiter …

… nur zu!

Mitte Oktober 2021 verpflichtete der Turnverband ein Trainerduo aus Amerika, Anthony Retrosi und Wendy Martin – und bot mir an, ebenfalls fix ins Trainerteam zu wechseln. Diese Möglichkeit wollte ich ergreifen. Ich fand es ein megatolles Angebot. Ich wusste, dass ich mich als Trainerin weiterentwickeln und viel lernen kann. Nur leider hat das nicht funktioniert.

Aus welchen Gründen?

Irgendwie realisierte ich gar nicht, dass ich meine Aktiv-Karriere eigentlich beendet hatte. Körperlich schon. Aber ich stand morgens um 8 Uhr in der Halle, hatte gleichzeitig Mittagspause wie als Athletin. Mein Alltag war wie früher. Darauf hatte ich einfach keine Lust mehr. Dazu kam, dass ich auf Mandatsbasis einen anderen Job hatte und auch noch zwei Abende pro Woche in einer Bar arbeitete. Es wurde mir alles zu viel. Zudem fühlte ich mich auch nicht mehr besonders willkommen in Magglingen.

Warum?

Die neuen Trainer wussten gar nicht so recht, wie sie mich in die Arbeit integrieren wollten. Da fragte ich mich schon: Wurde das nicht geklärt mit dem Verband? Ich hatte zunehmend ein komisches Gefühl. Einmal hiess es dann an einem Morgen in der Adventszeit in der Halle. «Giulia, du kannst zusammen mit der verletzten Athletin beim Baspo die Weihnachtsdekoration holen.» Also sorry, ich muss schon sagen, dafür bin ich doch nicht da! Eine andere Geschichte: Eigentlich eine tolle Sache, sie organisierten einen Teamevent, zusammen Guetzli backen und Pizza essen. Dann hiess es: «Giulia, du hast doch ein Auto, kannst du bitte unten in der Stadt die Pizzas holen?» Die Info, dass überhaupt ein Teamevent stattfindet, habe ich nur per Zufall mitbekommen. Da kam ich mir schon ein bisschen blöd vor. Ich merkte, dass mir die Umgebung Magglingen nicht mehr guttut. Das habe ich dem Verband dann mitgeteilt und per sofort aufgehört. Das hat ungemein gutgetan.

Wie sieht Ihre neue Welt aus?

Ich arbeite für eine Marketingagentur in Biel. Das konkrete Projekt: Wir helfen in den Städten Deutschlands, wo die Fussball-EM 2024 stattfindet, die Fanzonen aufzubauen. Football Village, Public Viewing, solche Dinge. Ich bin zusammen mit einer Kollegin für die kommerziellen Partner zuständig.

Sie sagen dann einem Sponsor: «Et voilà, das ist euer Platz, drei mal fünf Meter, hier dürft ihr euren Stand aufbauen?»

Genau. Also es ist ein bisschen mehr als drei mal fünf Meter. Aber sonst: korrekt. Mein Glück ist, dass ich in unserem internationalen Team eine jener Personen bin, die Deutsch spricht. Sobald es um Regeln geht, fühlen sich die Deutschen in ihrer Sprache wohler …

Wie kamen Sie zu diesem Job?

Ich habe zum Ende meiner Turn-Karriere begonnen, Marketing-Management zu studieren. Nebenbei habe ich eine Zeit lang in einer Bar gearbeitet. Diese gehörte dem Geschäftspartner meines jetzigen Chefs. Eine glückliche Fügung quasi.

Es tönt jedenfalls nicht danach, als ob Ihnen langweilig geworden wäre.

Ich merke immer wieder, dass viele Leute denken, dass ich jetzt gar nichts mache, nun mega Zeit habe für alles – aber das ist nicht der Fall. Auch wenn meine Karriere als Turnerin schön und erfolgreich war, ich muss trotzdem noch weiterarbeiten.

Sie sind bald 30 Jahre alt, haben jetzt Ihre ersten Berufserfahrungen hinter sich. Haben Sie manchmal das Gefühl, etwas verpasst zu haben?

Ich bereue nichts. Ich starte jetzt meine zweite Karriere und das Wichtigste dabei ist, dass ich etwas gefunden habe, das mir extrem gut gefällt. Darüber bin ich megafroh. Weil ich lange eben gerade nicht wusste, was ich neben dem Sport gut kann. Denn ich habe es verinnerlicht, gewisse Ansprüche an mich selbst zu haben, das wird wohl immer so bleiben.

Haben Sie im Arbeitsalltag auch Vorteile aus der Zeit als Sportlerin?

Wie meinen Sie das?

Die Struktur im Alltag, die Disziplin, der Wille, der Ehrgeiz, der Umgang mit Rückschlägen, die Kommunikation – damit haben Sie jahrelange Erfahrung.

Gut möglich. Was mir spontan in den Sinn kommt: das Kämpferische, der Durchhaltewillen. Nicht gleich den Kopf in den Sand stecken, wenn etwas nicht funktioniert. Vielleicht auch das Auftreten vor anderen Leuten. Zwar war ich am Anfang meganervös, weil ich zuvor nie vor anderen Leuten reden musste.

Als Sportlerin hat man langfristige Ziele. Haben Sie das auch im Beruf?

Für den Moment bin ich einfach megahappy. Und hoffe, dass ich noch ein bisschen bei meiner Agentur bleiben darf. Aber allzu weit in die Zukunft schaue ich nicht. Vielleicht kommt ja irgendwann mal noch eine Familienplanung. Ich bin bald 30. Da weiss man nie.

Sie möchten Kinder bekommen?

Wir sagen jetzt nicht konkret: Lass es uns ab sofort probieren. Kinder werden irgendwann ein Thema werden. Aber jetzt, solange ich mein Studium nicht abgeschlossen habe, das Arbeiten ziemlich intensiv ist, ich ständig auf Reisen bin, ist es gar nicht möglich. Und ich möchte zunächst noch mehr Erfahrungen sammeln in der Arbeitswelt. Das ist vielleicht der einzige Nachteil meines späten Einstiegs in die Berufswelt, viele Leute machen ihre Erfahrungen einiges früher.

Haben Sie die Leidenschaft fürs Motorradfahren dank Ihrem Freund entdeckt?

Ja. Wobei ich schon früher immer Töff fahren wollte. Aber wirklich darum bemüht habe ich mich als Sportlerin nie. Nun bin ich etwas in die Szene reingerutscht, weil seine ganze Familie sehr töffbegeistert ist. Seit Ende 2021 darf ich fahren. Den Tag der Prüfung vergesse ich nicht so schnell. Es war – entschuldigen Sie – arschkalt.

Und nun sind Sie zur regelmässigen Töfffahrerin geworden?

Genau. Beim Onkel meines Freundes habe ich eine Harley gekauft. Schon als ich sie auf den Bildern gesehen habe, dachte ich: «Wow, die muss ich haben!» Nach dem Probefahren wusste ich: Die liegt mir wunderbar. Es ist eine Sportmaschine. Und ich komme mit den Füssen gut runter, das hilft (lacht).

Haben Sie neben dem Motorradfahren einen anderen Sport für sich entdeckt?

Bis jetzt nicht, vielleicht kommt es irgendwann wieder. Aber dafür muss zuerst die Freude an der Bewegung zurückkommen. Aber Motorradfahren ist ja auch ein Sport. Es ist sehr anstrengend. Man muss jederzeit sehr konzentriert und fokussiert sein. Gerade kürzlich hatte ich ein kleines Schock-Erlebnis. Lange 80er-Strecke, ein Auto will einen Traktor überholen, sieht mich nicht – ich musste auf den Veloweg ausweichen. Da nützt das «Sorry» hinterher nicht viel. Mein Herz hat ziemlich geschlagen hinterher … Auf dem Töff muss man nicht nur für sich schauen, denn man verliert immer.

Bald steht die Kunstturn-WM an. Verfolgen Sie die Wettkämpfe vor dem TV?

Ja. Einfach als Fan. Weil es mich interessiert. Und weil ich einfach extrem gerne Kunstturnen schaue. Letztes Jahr während der EM hatte ich zum ersten Mal etwas Mühe. Ich war ziemlich nervös vor dem TV, es hat plötzlich wieder gekribbelt. Aber lustigerweise nur während der Boden-Wettkämpfe. Der Rest lässt mich kalt.

Auch der Sprung – Ihre Paradedisziplin?

Ja. Vor dem Sprung hatte und habe ich ziemlichen Respekt, ich kann gar nicht erklären, warum genau. Das Bodenturnen dagegen widerspiegelt für mich das, was das Kunstturnen ausmacht. Du hast die Eleganz, die Schnelligkeit, die Power, auch das Tänzerische ist dabei. Es ist die Königsdisziplin. Und ja, als ich so zuschaute, hat mich das plötzlich ziemlich mitgenommen.

Was haben Sie mit diesen Gefühlen gemacht?

Nichts. Ich bin auf dem Sofa in der Ecke gehockt und habe an meinen Fingern rumgedrückt.

Und dann, hat dieses Gefühl angedauert? Oder haben Sie gleich wieder vergessen können?

Ich bin eine Meisterin im Verdrängen von Gefühlen. Schon immer. Darum war es auch schnell wieder o. k.

Verdrängen Sie Ihre Gefühle auch im Privatleben?

Ich bin eigentlich von Grund auf ein positiver Mensch. Und ich befasse mich nicht gerne mit traurigen oder negativen Gefühlen. Aber wenn es mal so ist, dann merken das nur Leute, die mich gut kennen.

Ihre ältere Schwester Desirée ist 2017 verstorben. Gab es auch in Zusammenhang mit Ihren Tod Momente, wo Sie Gefühle verdrängen mussten?

Das ist etwas ganz anderes. Das sind völlig andere Gefühle. Auch jetzt fehlt mir Desirée noch jeden Tag. Wenn ich mich mit ihrem Tod befasse, kommen die Tränen immer noch. Und das wird auch immer so bleiben. Egal, wie viel Zeit vergangen ist.

Sie haben das Chaos in Magglingen erwähnt. Das alles hat begonnen mit der Veröffentlichung der Magglingen-Protokolle, in denen verschiedene Turnerinnen Vorwürfe geäussert haben, sie seien zu hart angegangen worden von Trainern oder sogar gedemütigt. Sie haben sich nie dazu geäussert …

… nein, und ich werde es auch weiterhin nicht tun.

Warum?

Aus Schutz für mich selbst. Es bringt niemandem etwas, wenn in der Öffentlichkeit eine Schlammschlacht entsteht. Was ich sagen kann: Es tut mir leid für das aktuelle Team der Schweizerinnen. Die Umstände, unter denen sie sich für Grossanlässe qualifizieren sollten, sind sehr schwierig. Sie mussten in letzter Zeit im Chaos leben. Die Folge davon ist, dass wir nur zwei Schweizerinnen an der WM im Herbst sehen werden. Das zu sehen, tut weh.

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