Gioya Noser hat wegen eines seltenen Syndroms ständig und lebensgefährlich Hunger

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AZ-Aargauer Zeitung – Aylin Erol

Sie könne aufs Mal fünf Pizzas essen, sagt die Solothurnerin. Sie hat das Prader-Willi-Syndrom. Betroffene sterben nicht selten früh an den Folgen ihres Übergewichts. Die 21-Jährige erzählt vom täglichen Kampf gegen den ungebändigten Hunger.

Der Kühlschrank und die Küchenschränke sind mit Zahlenschlössern versiegelt. Vor Gioya Noser auf dem Esstisch des Einfamilienhauses am Rande des Kantons Solothurn steht nur ein Krug Wasser. Keine Guetzli. «Ich könnte mich nicht beherrschen und würde alles aufessen», sagt Gioya Noser, und ihre Mutter, die neben ihr sitzt, nickt wissend. Haben wir diesen Satz nicht alle schon mal im Spass bei Chips oder Nüssli gesagt? Gioya ist es aber bitterernst. Ihr Leben hängt gar davon ab. Die 21-Jährige hat das Prader-Willi-Syndrom.

«In meinem Hirn ist etwas kaputt», sagt Gioya. Sie habe immer Hunger. Bauchknurren-Hunger. «Ich könnte jetzt aufs Mal fünf Pizzas essen», sagt sie mit einem Schulterzucken. Nach dem Essen halte das Sättigungsgefühl nur kurz an. Dann verlangt ihr Hirn Nachschub, selbst wenn der Bauch voll ist. Im schlimmsten Fall muss Gioya brechen. Der Hunger kommt trotzdem kurze Zeit später wieder auf.

In der Schweiz leben 200 Betroffene

Bei Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom fehlt ein Teil der väterlichen Erbinformation. Die Folge ist eine permanente Schädigung des Hypothalamus im Gehirn. Dieser ist sozusagen die Schaltzentrale unseres Nervensystems. Er reguliert nicht nur Hunger- und Sättigungsgefühl, sondern auch die Körpertemperatur, den Hormonhaushalt, Schlaf und das Sexualverhalten.

Dass man all dies heute weiss, ist drei Zürcher Kinderärzten – Andrea Prader, Heinrich Willi und Alexis Labhart – zu verdanken, die das Syndrom 1956 erforschten und ihm seinen Namen gaben. Der Arzt Urs Eiholzer war Praders letzter Schüler und forscht nun seit 30 Jahren zum Syndrom. Er kennt alle rund 200 Betroffenen, die in der Schweiz leben. Auch Gioya Noser.

Jedes Jahr kommen in der Schweiz etwa fünf Kinder mit der Behinderung zur Welt. «Die Mütter merken schon während der Schwangerschaft, dass etwas nicht stimmt», sagt Eiholzer. Der Embryo bewege sich kaum. Die Neugeborenen wirkten schlaff und kraftlos. Sie schlafen meist nur, weinen nicht und haben Mühe, Milch zu saugen. Das liegt daran, dass Personen mit dem Prader-Willi-Syndrom auch eine Muskelschwäche aufweisen.

IV anerkennt Therapien nicht an

Mit zunehmendem Alter treten neue Symptome auf: Kleinwüchsigkeit, fehlende Impulskontrolle, Wutanfälle, ausbleibende Pubertätsentwicklung – und eben auch der unbändige Hunger. «Er ist die grösste Herausforderung», sagt Eiholzer. Denn fehlendes Wachstum und ausbleibende Pubertätsentwicklung könne man heute früh mit Hormonen behandeln. Auch Sport helfe gegen die Muskelschwäche. Der Hunger aber bleibt.

Um diesen zu stillen, können einige Menschen mit Prader-Willi eine Geschicklichkeit und Kreativität an den Tag legen, die ihre kognitiven Fähigkeiten weit übersteigt. Denn ihr IQ liegt nur etwa bei 70, also auf demselben Niveau wie bei Menschen mit Trisomie 21. Suchen sie aber nach Essen, können sie plötzlich handeln wie Menschen mit einem IQ von 120. Nach Essen zu suchen wird zum Überlebenstrieb.

Seitens der Ämter herrscht jedoch oft wenig Verständnis für die Lebensumstände und Bedürfnisse von Betroffenen. Prader-Willi gehört nun Mal zu den «rare diseases», den seltenen Krankheiten. Damit die IV etwa die Kosten für Physiotherapie oder Wachstumshormone von Gioya Noser übernahm, musste die Familie mehrfach vor Gericht. Urs Eiholzer begleitete sie in den Prozessen. Mit der Gesetzesrevision «Weiterentwicklung der IV 2022» wurde die Situation gar noch verschlechtert. Dies einzig, indem die Terminologie im Gesetzestext «aktualisiert» wurde, wobei vergessen ging, dass dadurch Menschen mit Prader-Willi herausfallen.

Der Hunger, ein tagtäglicher Kampf

Wegen des ständigen Essensdrangs sterben die meisten Betroffenen in jungem Alter an den Folgen ihres Übergewichts. So auch Gioya Nosers Mitbewohnerin. Bis vor kurzen lebten die beiden noch zusammen in einer betreuten Wohngemeinschaft für Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom. Acht genau abgewogene Mahlzeiten bekommt Gioya dort am Tag. Insgesamt 1250 Kalorien. Mehr darf die 1,55 Meter grosse Frau nicht zu sich nehmen. Nur so kann Gioya ein gesundes Gewicht halten. «Mein Körper verbraucht weniger Kalorien als normale Menschen», sagt sie.

Der Hunger ist ein täglicher Kampf. Gioya beschreibt es so: «Es fühlt sich an, als würde auf der einen Schulter ein Teufelchen sitzen, das mir zuflüstert: ‹Los, klau dem Mami Geld aus dem Portemonnaie und kauf dir etwas zu essen.› Und auf der anderen Seite sitzt ein Engelchen und sagt: ‹Nein, das tut man nicht. Zu viel Essen ist zudem schlecht für dich!›» Inzwischen gewinne häufig das Engelchen. Aber auch das Teufelchen kann obsiegen. Wenn das passiert, fühlt sich Gioya unglaublich schlecht. Hinzu kommt, dass sich der verlorene Kampf kaum verstecken lässt. Menschen mit Prader-Willi-Syndrom nehmen auch überdurchschnittlich schnell zu.

Lehre zur Hilfsköchin trotz Prader-Willi

An dieser Stelle schaltet sich Gioyas Mutter, Janine Noser, ein: «Von Anfang an war immer alles ein Kampf mit Gioya.» Herauszuhören ist kein Vorwurf an die Tochter, sondern eher Ernüchterung. Als Gioya auf die Welt kam, sei es ein Kampf gewesen, dass sie genug Milch bekam. Später sei es ein Kampf gewesen, ihr Gewicht im Auge zu behalten, sie zum Sport zu animieren, eine Kinderbetreuung zu finden, die ihr kein Essen gab, und schliesslich ein Wohnheim zu finden, in dem das Essen konsequent abgeschlossen wurde.

Oft genug habe man ihre Mutter hinter vorgehaltener Hand als Rabenmutter bezeichnet, wirft Gioya ein. «Aber meine Mama schaut nur, dass ich die Kontrolle bekomme, die ich brauche.» Sie selbst vergewissert sich inzwischen immer, ob alle Schränke abgeschlossen sind, alles Essen ausser Reichweite ist. «Mir hilft das extrem», sagt Gioya. Dann könne sie sich auf andere Dinge konzentrieren, das Verlangen ignorieren. Sogar beim Kochen. Gioya hat nämlich trotz Prader-Willi-Syndrom eine Lehre als Hilfsköchin absolviert. Heute arbeitet sie 60 Prozent in einem Restaurant, in dem Menschen mit Behinderung am Herd stehen.

Aber ist die Versuchung nicht gerade beim Kochen am grössten? «Nein, ich habe ja immer etwas zu tun», sagt Gioya. Nur wenn Langeweile aufkomme, etwa wenn sie in der Küche auf Gäste warteten, sei es schwierig. Ab und zu werde sie dann schwach. Aber grösstenteils habe sie sich im Griff.

Eine komplexe Mutter-Tochter-Beziehung

Trotz all der tagtäglichen Kämpfe halten Mutter und Tochter zusammen. Ihre Beziehung wirkt innig, aber komplex. Sie verbringen viel Zeit miteinander, spielen Spiele, machen Sport, kochen. Doch die Mutter berichtet auch von vielen Rückschlägen, die sie mit Gioya erlebte. Immer wieder sei sie angelogen worden. Immer wieder fand Gioya neue Wege, sie auszutricksen, um an Essbares ranzukommen. «Dieser Vertrauensverlust ist nicht schön», sagt die Mutter. Sie wisse, dass das Lügen und Tricksen mit dem Prader-Willi-Syndrom zusammenhänge. Aber ganz aus der Verantwortung nehmen wolle sie ihre Tochter auch nicht. Gioya schaut betreten zu Boden.

«Am schlimmsten war es vor vier Jahren», sagt Janine Noser. Gioya nickt und fügt an: «Für Zigaretten und Essen wurde ich sozusagen zur Nutte.» Die Mutter schüttelt mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. Ein viel älterer, ebenfalls behinderter Mann habe ihre Tochter längere Zeit ausgenutzt. Später wurde sie von einem Freund mit Liebe, Schokolade und Fast Food überhäuft, sodass sie in nur drei Monaten 10 Kilogramm zunahm.

Träume und Wünsche wie jede 21-Jährige

Direkten Zugang zu Geld bekommt Gioya nicht. Sie sagt selbst, sie würde es sofort unkontrolliert für Essen ausgeben. Immer wieder erwähnt Gioya die Struktur und Kontrolle von der Mutter oder eben der Prader-Willi-Einrichtung, in der sie wohnt. Diese brauche sie, um ein gesundes Leben führen zu können.

Doch wie jede andere 21-jährige Frau ist es auch ihr Traum, ein eigenständiges Leben in den eigenen vier Wänden zu führen. Auf die Frage, was sie sich für die Zukunft wünscht, werden Gioyas Augen darum ganz rot und glasig. «Ich wünsche mir, dass die Wissenschafter endlich dieses Medikament finden, das gegen meinen Hunger hilft. Das haben sie mir schon vor zehn Jahren versprochen.» Ohne diesen blöden Hunger bräuchte sie keine Kontrolle, wäre sie frei, so wie alle anderen auch. Alles andere in ihrem Leben könne sie selbstständig bewältigen.

Ein Versprechen für ein Medikament habe er ihr nie gegeben, sagt Urs Eiholzer. Man forsche seit Jahren erfolglos. Medikamente wie Ozempic, das derzeit die Stars in Hollywood zur Unterdrückung des Hungers nutzen, helfen Menschen mit Prader-Willi-Syndrom nicht. Und so geht momentan eben nur ein Leben in der Prader-Willi-WG.

Der Artikel von Aylin Erol

Bild: Fabio Baranzini

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