Fettaktivistin Melanie Dellenbach: «Als dicke Frau werde ich abgewertet»

Fokus

annabelle – Marah Rikli

Melanie Dellenbach, Präsidentin von Body Respect Schweiz, setzt sich für die Entstigmatisierung dicker Menschen ein. Mit Autorin Marah Rikli spricht sie über Vorurteile, verletzende Sprüche und die Verantwortung von Ärzt:innen.

annabelle: Melanie Dellenbach, wir sind beide in den 1980er Jahren geboren. Ich erinnere mich, wie die einzige dicke Person, die ich als Kind im Fernseher sah, «Roseanne» war. Die Schauspielerin Roseanne Barr spielte eine ruppige, dicke Mutter, die viel isst, laut und chaotisch ist. Mich hat dieses Bild geprägt in Bezug auf Vorurteile gegenüber dicken Menschen.
Melanie Dellenbach: Ich erinnere mich an den Film «Arielle», den ich als Kind im Kino schaute. Ursula war die böse Hauptprotagonistin und dick. Natürlich wollte ich nicht wie Ursula, sondern wie Arielle sein – alle wollten wie Arielle sein. Später blieb mir auch die Slimfast-Werbung mit dem Moderatoren Harry Wijnvoord in Erinnerung, es gab einen grossen Promi-Diättrend und auch die Frauenzeitschriften waren voll von Abnehmprogrammen und neuen Diätempfehlungen.

Ich habe meine erste Diät mit 14 Jahren  gemacht – aus einer Frauenzeitschrift. Ich nahm ab und dann wieder zu. Danach folgten sicherlich 30 verschiedene Diäten in meinem Leben, heute diäte ich nicht mehr. Für mich war ab der Primarschule klar, dass dick zu sein etwas Schlechtes ist und ich schlank sein muss als Mädchen, um schön zu sein und gemocht zu werden. Hatten Sie ein gutes Körperbild? 
Nein, ich hatte jahrelang das Gefühl, nicht zu genügen, weil ich dick bin. Ich habe den Fehler immer bei mir gesucht und dachte lange Zeit, ich sei schwach und faul und würde einfach zu wenig Sport machen, zu viel essen. Ich fühlte mich also verantwortlich für die Diskriminierung, die ich erlebte. Ich nahm in der Vorpubertät an Gewicht zu, in der Zeit hörte ich zum Beispiel oft Sätze wie «Du warst so ein hübsches Mädchen.» Das prägt und verletzt. Erst später habe ich realisiert, wie normalisiert Gewichtsdiskriminierung ist.

Inwiefern?
Dicke Menschen werden stigmatisiert, sie gelten als faul, krank und unsportlich und werden unsichtbar gemacht. Es gibt viele Orte, wo Menschen, die dick sind, nicht hingehen, weil sie angestarrt werden, wie etwa im Fitnesscenter. In Kinos oder im Theater, aber auch in Hörsälen an Hochschulen sind die Sitzmöglichkeiten oft schon für schlanke Menschen eng und unbequem. Für dicke Menschen sind solche Orte oft mit Schmerzen verbunden und es kann sein, dass sie deshalb Orte wie das Theater meiden. In Kleiderläden endet das Angebot oft bei Grösse 40/42. Dicke Menschen werden auch im Arbeitsleben benachteiligt: Wie Studien zeigen, erhalten viele von ihnen weniger Lohn und werden weniger befördert.

 

«Lehrpersonen trauen dicken Kindern weniger zu»

 

Wie spüren Kinder Gewichtsdiskriminierung?
Es gibt auch hierzu Studien, die belegen, dass Lehrpersonen dicken Kindern weniger zutrauen und bei gleicher Leistung ein dickes Kind schlechter benoten als ein dünnes Kind. Oft geht die Benachteiligung auch mit Klassismus, der Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder Rassismus zusammen. Die Stigmatisierung ist auch im Sportunterricht spürbar: Früher liess man die Kinder Mannschaften wählen, da wurden dicke Kinder oft als Letzte in die Gruppe gewählt.

Haben Sie selbst solche Erfahrungen gemacht?
Für mich waren Sporttage sehr belastend. Heute gibt es zum Glück mehr Bewusstsein für solche Diskriminierung. Die Sportsoziologin Karolin Heckemeyer zum Beispiel sagt, sie würde den Ausdruck  «unsportlich» am liebsten streichen, da daran bestimmte Vorstellungen über sportliche bzw. unsportliche Körper geknüpft sind.

Sie selbst sind Mutter. Erleben Sie Diskriminierung in Bezug auf ihre Mutterrolle als dicke Frau?
Ich erlebe Abwertung und Vorurteile, ja. Ich lebe mit meiner Familie in einer städtischen Wohnung, wir sind gut gebildet. Ich würde uns als nachhaltig lebend und als privilegiert bezeichnen. Als dicke Mutter gelte ich aber als eher weniger gebildet und als nicht fähig, Kinder zu gesunden Menschen zu erziehen.

Nachhaltig und grün leben wird auch oft mit Verzicht, gesund leben und Schlankheit in Verbindung gebracht?
Menschen urteilen schnell über die Moral von dicken Menschen. Dass sie nicht nachhaltig leben, sondern ungesund essen, unsportlich sind und nicht spirituell – zum Beispiel, dass sie kein Yoga machen und nicht meditieren. Und wenn sie es machen, müssen sie stark beweisen, wie gut sie es können. Ist ein Kind dick, herrscht die Meinung vor, die Mütter hätten es schlecht ernährt, es vernachlässigt. Das ist auch ein feministisches Thema. Denn Kinder gelten heute als Ergebnis der Erziehung der Eltern, vor allem der Mütter. Die sozialen Gesundheitsdeterminanten, das bedeutet die gesundheitlichen Einflussfaktoren, zum Beispiel wie marginalisiert eine Familie ist und wie viel Zeit und Geld eine Familie zur Verfügung hat, werden in solchen Diskussionen oft komplett ausser Acht gelassen.

In den Berichterstattungen heisst es oft, Fettleibigkeit sei das grössere Problem als Magersucht.
Der Vergleich ist falsch. Magersucht ist eine psychosomatische Krankheit mit der höchsten Sterblichkeitsrate der psychiatrischen Erkrankungen bei Jugendlichen. Fettleibigkeit hingegen ist zunächst einmal eine Körperform, die anhand von Grösse und Gewicht bestimmt wird. Davon können wir nichts über die Gesundheit oder das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein einer Essstörung aussagen. Viele Journalist:innen vermischen Argumente und recherchieren schlecht.

Inwiefern?
Sie nutzen Body Positivity als Schlagwort und vermischen dann Essstörungen, Selbstliebe, gewichtsinklusive Gesundheitsförderung und Fettaktivismus wild miteinander. Diese Themen haben Überschneidungen, solche Vermischungen sind jedoch nicht hilfreich und verhindern nuancierte Diskussionen. Denn schlussendlich geht es um den Kampf gegen Gewichtsdiskriminierung, für gleiche Rechte und Inklusion.

«Statt einer Behandlung erhält man in vielen Praxen und Kliniken eine Predigt über das Abnehmen»

 

Kritiker:innen sagen, dicke Menschen kosten das Gesundheitssystem zu viel. Ist das auch falsch?
Wir sind ein Sozialstaat, daher finde ich das immer ein sehr gefährliches Argument. Warum kosten dicke Menschen? Unter anderem auch, weil dicke Menschen keine gute, adäquate Gesundheitsversorgung bekommen.

Wie zeigt sich das?
Viele Ärzt:innen beschämen und reduzieren alle Beschwerden auf das Gewicht. Statt einer Behandlung erhält man in vielen Praxen und Kliniken eine Predigt über das Abnehmen. Untersuchungen zeigen, dass Ärzt:innen unter anderem mit dicken Menschen weniger Zeit verbringen, sie also schnell und ungenau abhandeln. Dadurch werden viele Krankheiten nicht rechtzeitig erkannt, oder dicke Menschen vermeiden aufgrund der Diskriminierungserfahrungen durch Gesundheitspersonal Untersuchungen, was viele negative Auswirkungen haben kann.

Was braucht es, damit sich die Vorurteile gegenüber dicken Menschen abbauen und sie weniger Diskriminierung erfahren?
Wir brauchen andere Bilder. Sei es in den Medien, in der Werbung oder in Büchern – speziell auch in Lehrmitteln. Dicke Menschen müssen nicht leidend dargestellt werden. Wir können dicke Menschen stattdessen als diversen Teil der Gesellschaft abbilden, der mitten im Leben steht. Es kann genauso dicke wie schlanke Moderator:innen und Sportlehrer:innen, Tänzer:innen oder Models geben. Dicke Menschen können auch wahnsinnig attraktiv sein, es gibt dicke Menschen mit und ohne Behinderungen, dicke People of Color, glückliche dicke Menschen und solche, die Depressionen haben.

Mittlerweile sind Sie sehr erfolgreich mit Ihrem Aktivismus.
Ich habe mehr erreicht, als ich es je für möglich gehalten hätte. Body Respect Schweiz ist inzwischen Mitglied der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz und der Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen Schweizer Menschenrechtsorganisationen sind sehr wichtig, gerade auch, da Gewichtsdiskriminierung häufig mit anderen Diskriminierungsformen verknüpft ist. Im letzten Oktober wurde ein Gastbeitrag von Body Respect Schweiz auf humanrights.ch veröffentlicht, womit Informationen zum Thema Gewichtsdiskriminierung auf einer wichtigen Plattform zum Thema Menschenrechte in der Schweiz verfügbar sind. Medizinisches Fachpersonal interessiert sich für meine Arbeit und Politiker:innen sind sensibilisierter.

Sind Sie manchmal auch erschöpft und spielen mit dem Gedanken, aufzuhören?
In diesem Jahr fühle ich deutlich mehr Erschöpfung, weshalb ich mich aktuell im Neinsagen übe. Zu meinem runden Geburtstag wünsche ich mir ein Sabbatical, um hoffentlich langfristig Energie und Motivation zu haben, mich gegen Gewichtsdiskriminierung und für Körperrespekt einsetzen zu können.

 

Der Artikel von Marah Rikli

 

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