Essay: Warum wir 2022 öfter schreien sollten

Fokus

annabelle – Melanie Biedermann – 

Corona, Klima, Politik: Die Welt scheint im Krisenmodus zu verharren und bei vielen Menschen macht sich Frust und vielleicht auch Wut breit. Unsere Autorin Melanie Biedermann findet, ein gelegentlicher Urschrei täte manch einer und einem gut.

Mein Herz pocht hin und wieder zu heftig. Manchmal fühle ich mich innerlich leer; emotional abgelöscht. Und öfter denn je spüre ich einen Knoten im Hals. Diese Zustände kommen und gehen. Sie haben kaum mehr mit Corona zu tun, allerdings hat sich seit Beginn der Pandemie eine stete Alarmbereitschaft in mir verfestigt. Die Klimabombe tickt täglich ein bisschen lauter, humanitäre und geopolitische Krisen spitzen sich zu, Radikalisierung hat an allen Enden der Gesellschaft Hochkonjunktur; das Leben wie wir es kannten, gibt es nicht mehr und wird es so nie mehr geben. Diese Einsicht ist ernüchternd, um es gelinde auszudrücken und ich vermute, ich bin nicht die Einzige die dieser Tage mit Knoten im Hals kämpft.

Die Frage, die sich wohl vielen stellt: Wie weiter?

Was mit der Welt passiert, kann ich nur sehr bedingt beeinflussen – aber vielleicht kann ich meine Panik wegmeditieren? Boxen, um gegen den Frust anzugehen? Meine Emotionen mit Hilfe eines Psychiaters ordnen? Ja, das könnte klappen. Oft funktionieren diese Strategien gut, um durch Krisen zu navigieren. Manchmal nützt aber nichts davon. Wenn ich vor Emotion schier platze oder sie mich lähmt. Oder wenn mir schlicht die Worte fehlen, zu beschreiben, was gerade in mir vorgeht. Dann muss ich schreien. Hemmungslos und schrill, so lange, bis ich nicht mehr mag. Dann fühle ich mich erleichtert. Entladen. Und ruhig. Ich weiss nicht, wie es euch geht, aber ich wusste lange nicht, dass Schreien eine Option ist.

Ist es nicht ein Notfall, wenn wir vor Wut fast platzen?

Weil: Kann ich das überhaupt? Darf ich das denn? Immerhin schreit man als erwachsener Mensch nicht einfach so. Babys heulen auf, wenn ihnen etwas weh tut oder sie sich mitteilen wollen. Wenn Erwachsene aus aller Inbrunst schreien, macht uns das mulmig. Ein Schrei von ganz Tief klingt nach Horror, womöglich nach einem Verbrechen oder einem medizinischen Notfall. Könnte man aber nicht auch von einem Notfall sprechen, wenn uns die Knoten im Hals regelmässig die Luft abschnüren? Wenn das Herz oft zu heftig pocht und sich emotionale Taubheit einstellt? Oder wenn wir vor Frust oder Wut fast platzen? Heute finde ich: durchaus.

Ein Konzerterlebnis mit Laurie Anderson half mir diesbezüglich auf die Sprünge.

Die US-Künstlerin spielte im März 2020 vor vollem Haus im neuseeländischen Wellington, wo ich damals auf Durchreise war. Europa machte gerade die Grenzen dicht, wenige Tage später erklärte die WHO die Pandemie. Anderson thematisierte die Anspannung im Raum, unsere kollektiven Sorgen und Ängste, und sie erinnerte an Donald Trumps Wahlsieg im November 2016. Sie sei damals unendlich frustriert und fassungslos gewesen, auch weil niemand angemessen reagiert habe. Dann fand sie Yoko Onos Tweet, einen Audioclip, auf dem diese 20 Sekunden lang schreit. «Ich war so erleichtert!», erklärte Anderson. An Ort und Stelle forderte sie das Publikum dazu auf, gemeinsam mit ihr zu schreien: «Lasst alles raus, egal was ihr gerade fühlt.» Die Masse schrie mit Anderson, ich war zu gehemmt. Aber ihre Worte lösten etwas in mir aus.

Ins-Kissen-Schreien als tägliches Ritual
Als ich das erste Mal schrie, war ich alleine und ich hatte das Gefühl, dass ich keine Wahl hatte. Also griff ich nach einem Kissen, drückte es gegen mein Gesicht und schrie. Es tat so gut, genau wie Laurie Anderson es beschrieben hatte. Seither schrie ich ein paar mal mehr, wenn sich Emotionen zu sehr anstauten und alle meine anderen Methoden, mein Gemüt zu regulieren – Meditieren, Yoga, Sport und der gelegentliche Exzess – , nicht griffen.

Ich fragte mich, ob auch Menschen in meinem Umfeld schreien, nicht nur die Yoko Onos und Laurie Andersons der Welt, und wurde überrascht. Ein guter Freund gestand beim Abendessen, dass auch er ab und zu zum Kissen greife. Seine langjährige Partnerin schien nichts davon zu wissen, erzählte dann aber von dem einen Mal, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter an einen abgelegenen Ort fuhr, um zu schreien. Ein weiterer Freund berichtete von einer Bekannten, die das Ins-Kissen-Schreien während einiger Wochen zum täglichen Ritual machte.

Was soll der Schrei bezwecken?
Wenn es doch einige Menschen tun und es ihnen offenbar hilft, warum sprechen wir dann nicht darüber, dass Schreien ein gutes Ventil zur Stress- oder Emotionsbewältigung sein kann? Müssen wir die Praxis erst noch entstigmatisieren?

«Wie wir mit dem Schreien umgehen, ist sicher kulturell geprägt», sagt Sportpsychologin Romana Feldmann. «In unserem Kulturraum wird einem früh beigebracht, ruhig zu sein und nicht zu sehr aus uns rauszugehen.» Sie sieht die entscheidende Frage darin, was ein Schrei bezwecken soll.

Im Sportkontext werde etwa der Skifahrer Ramon Zenhäusern diskutiert, der vor den Starts jeweils lauthals schreit. Expert:innen seien sich uneins: «Manche interpretieren seine Schreie als Spannungs- und Druckabbau, damit er sich wieder in die sogenannt optimale Leistungszone bringen kann. Andere sagen, es sei ein Kraftaufbau wie bei einem Krieger, der ausrückt. Andere Beobachter:innen wiederum fürchten, dass er etwas verdränge oder unterdrücke», erklärt Feldmann. Sie selber sehe Zenhäuserns Praxis als Ventil. Dieses könne durchaus auch im privaten Kontext greifen.

Für einmal auf der körperlichen Ebene sein

«Ein Schrei ist ein Ausbrechen von allem», sagt Feldmann. «Dabei überlegt man sich nichts, es ist egal, wie es klingt oder aussieht und wer es vielleicht hören könnte. Man ist ganz stark auf der körperlichen und emotionalen Ebene und dieses einfach mal im Körper statt im Kopf sein ist per se etwas sehr Seltenes – gerade in einer Welt, in der wir immer sehr viel leisten und liefern sollen, und nebenher noch meditieren, um innere Klarheit zu bekommen.»

Körperpsychotherapeutin Eva Kaul betont den Aspekt des Loslassens ebenfalls und nutzt das Schreien punktuell als Behandlungsmethode: «Gerade bei Patient:innen, die Emotionen nicht mehr wahrnehmen und bewusst ausdrücken können, kann es sehr hilfreich sein, mit einem Schrei oder auch einem Schlag zu arbeiten, um etwas zu lösen», sagt sie. Explizit beim Schreien würden Patient:innen oft berichten, dass die Energie wieder freier fliesse. «Der Bereich um die Kaumuskeln verspannt sich bei starker Stressbelastung oft extrem. Aber auch der Rachenbereich, die Kehle und der Brustkorb können sich bei einem Schrei öffnen», so Kaul.

In ihren Behandlungen gehe es aber auch stark darum, den Patient:innen die Erlaubnis zu geben, sich auszudrücken und «zu erleben, dass die Welt nicht untergeht und dass ich selber nicht untergehe, wenn ich mal laut werde», erklärt sie. Letzteres ist wohl der Knackpunkt: «In unserer Gesellschaft gibt es kein Gefäss fürs Schreien», so Kaul.

Sich den Problemen trotzdem stellen

In meinem Fall war es eine Musikerin, die auf der Bühne stand, mir die Erlaubnis gab und einen Raum zur Verfügung stellte – und dennoch war ich in diesem Moment zu gehemmt. Im Alltag ist dann noch etwas anderes: Sich schwierigen Emotionen zu stellen und ihnen Raum zu geben, erfordert Mut und oft auch viel positiven Zuspruch, da sind sich auch Feldmann und Kaul einig. Wer sich überwinde, werde oft mit einem freudigen und erstarkten Gefühl belohnt. Letzteres kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Es gibt mir eine gewisse Sicherheit, zu wissen, dass ich schreien kann, wenn es denn sein muss.

Die Expertinnen betonen jedoch auch, dass das Schreien als solches keine Probleme löst. Danach sollte man sich mit den Emotionen auseinandersetzen, die den eingangs erwähnten Knoten im Hals, das Gefühl schier zu platzen oder sich nicht mehr zu spüren, auslösen. Tatsache ist auch: Nicht jede:r muss schreien, um seinen Emotionen Raum zu geben, für manche reichen konventionellere Ventile vollkommen. Aber was spricht dagegen, sich beim nächsten Emotionsstau ein Kissen oder die beste Freundin zu schnappen, in den Wald zu fahren und einfach mal lauthals zu schreien?

Zum Originalartikel auf annabelle

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