Sonntagszeitung – Die 1931 geborene Fotografin und Aktivistin Claudia Andujar wird im Fotomuseum Winterthur mit einer grossartigen Retrospektive gefeiert.
Sanft erleuchtet das Licht die Wangen, Stirnen und Nasen der Frauen und Männer aus dem Volk der Yanomami. Die Umrisse der Gesichter heben sich vor einem dunklen Hintergrund ab.
Auf einem der Bilder dieser Porträtserie, von der in der Ausstellung in Winterthur 21 Fotos in drei übereinanderhängenden Reihen gezeigt werden, ist auch der gewölbte Bauch einer Schwangeren zu sehen, auf einem anderen ein Penis, der mit einer Schnur am Leib eines jungen Mannes angebunden ist.
Zumeist sind es aber rundliche, jugendlich wirkende Gesichter im Profil, in Dreiviertelansicht, mit scharf geschnittenen Frisuren. Ein Mann liess seine Nase und sein Kinn mit Fibeln durchstossen. Ein anderer trägt eine nicht näher identifizierbare Kopfdeckung. Alle blicken vor sich hin. Wirken mit ihren leicht geöffneten Mündern vollkommen entspannt bei der Fotosession im Urwald, bei der sich die Fotografin Claudia Andujar viel Zeit nahm und ausschliesslich mit dem spärlichen Naturlicht gearbeitet hat, das durch die dichte Vegetation des Urwalds drang.
Dabei entstehen Bilder, die ganz Rhythmus oder ganz Stille sind, die geisterhaft spuken oder sich in tänzerische Bewegung auflösen, die intimste Nähe zwischen Menschen beschreiben und von ausgelassener Freude oder auch grauenhaften Angstzuständen berichten. Dank ihrer Nähe zu den Indigenen gelingen Andujar Fotos, die an Intimität nicht zu übertreffen sind. Sie ist Teil der Yanomami und bleibt dennoch die weisse Fotografin, die im Haus des dort ansässigen katholischen Missionars wohnt.
Aus der Fotografin wurde eine Bürgerrechtskämpferin, als die brasilianische Militärjunta unter Emílio Garrastazu Médici Hunderte von Arbeitern in das Gebiet der Yanomami schickte, um eine Strasse, den Perimetral Norte Highway, zu bauen. Die Fremden schleppten Krankheiten und Seuchen ein, welche die Bevölkerung ganzer Dörfer und Volksgruppen dahinrafften. Ein Drittel der ungefähr 30’000 Yanomami wurde damals Opfer der Seuchen. Auch Catrimani, wo sich Andujar jahrelang aufhielt, wurde fast ausgelöscht, sodass die fantastischen Bilder, die sie nach ihrer Rückkehr nach São Paulo in zahlreichen Ausstellungen zeigte, quasi über Nacht zu Zeugnissen einer zerstörten Kultur wurden.
1977 wurde ihr von der brasilianischen Regierung das Aufenthaltsrecht bei den Yanomami entzogen. Sie kehrte zurück nach São Paulo und gründete die Comissáo Pró-Yanomani, eine NGO, die sich für das Territorium des Volkes und seine kulturellen Rechte einsetzte. In den 1980er-Jahren begleitet sie als Fotografin zwei Ärzte, welche die Yanomami gegen Krankheiten wie Tuberkulose, Masern, Keuchhusten und Grippe impften.
Da die Menschen dieses Urwaldvolks keine Identitätsausweise besassen, fotografierte Andujar die Geimpften, denen die Mediziner jeweils eine Nummer zuordneten, die sie ihnen an einer Schnur um den Hals hängten. Auch wenn es bei diesen Nummern letztlich um die Rettung von Leben gegangen ist, so können sie auch als klares Zeichen gedeutet werden, dass die Bewohner des Dschungels angezählt sind. Eine Praxis, die Andujar fatal an den Holocaust erinnerte.
Ein grosser Erfolg für die Aktivisten der Yanomami und Andujars NGO war 1992 die Anerkennung des Territoriums durch die brasilianische Regierung. Darauf folgten zwei Jahrzehnte relativer Ruhe. Unter der Regierung von Jair Bolsonaro wird nun aber aktiv an der Auflösung des Sonderstatuts gearbeitet. Zudem strömen seit Jahren Tausende von Goldgräbern in die an Bodenschätzen reichen Berge an der Grenze zu Venezuela. Inzwischen verlaufen auch Transporte venezolanischer Drogenkartelle durch das Yanomami-Gebiet.
Die Ausstellung «Claudia Andujar. Der Überlebenskampf der Yanomami» ist bis zum 13. Februar 2022 im Fotomuseum Winterthur zu sehen. Das Kunsthaus Baselland zeigt bis zum 2. Januar die Ausstellung «Inside the Amazon» mit zahlreichen Fotos von Claudia Andujar, die nicht in Winterthur ausgestellt werden.