«Ein mathematisches Problem ist etwas Intimes»

Fokus

Horizonte – Das Schweizer Forschungsmagazin

Ihren eigenen Ansatz nennt sie naiv, ihre Forschung vergleicht sie mit Goldsuche: Die Gewinnerin der Fields-Medaille Maryna Viazovska über den Mathematik-Preis, ihre Arbeit und den Krieg in ihrer Heimat Ukraine.

Maryna Viazovska, wie ging es Ihnen, als Sie die Fields-Medaille erhielten?

Ich hatte natürlich grosse Freude. Es ist eine Ehre, zu den wenigen Personen zu gehören, die diesen Preis erhalten. Gleichzeitig stellte ich ein Paradoxon fest: Die Auszeichnung würdigt unsere Forschung, ist aber mit der Erwartung populärwissenschaftlicher Erklärungen verbunden, die dem eigentlichen Wesen unserer Arbeit nicht gerecht werden können.

Zu viel Populärwissenschaft für Ihren Geschmack?

Ich kämpfe ein wenig darum, meine Zeit einfach mit Mathematik zu verbringen. Aber mit Menschen zu sprechen, die nichts über mein Thema wissen, ist auch eine sehr interessante Erfahrung, weil das für mich völlig neu ist. Als Forscherin muss ich doch neugierig sein, oder? Ich stelle mir also die Frage: Warum sind diese Leute gekommen? Was wissen sie über Mathematik? Was interessiert sie?

Im September 2022 wurden Sie ins Bundesparlament eingeladen. Welche Eindrücke von der Begegnung sind geblieben?

Das ist vielleicht naiv, aber ich spürte eine positive Energie und ein aufrichtiges Interesse. Vielleicht, weil meine Arbeit neutral ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wir haben auch über die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit und der Grundlagenforschung gesprochen und die Erwartungen der Wissenschaft an die Politik. Ich halte nicht viel davon, Grundlagenforschung mit einem möglichen späteren Nutzen zu rechtfertigen. Es gefällt mir einfach, dass sie es uns ermöglicht, etwas langsamer vorzugehen und darüber nachzudenken, was wir tun und was wir wollen. Für mich sind viele unserer Probleme nicht darauf zurückzuführen, dass uns die Werkzeuge zur Verwirklichung unserer Vision fehlen, sondern darauf, dass unsere Vision nicht die richtige ist.

Ihr Spezialgebiet ist optimale Verpackung von Kugeln. In der dritten Dimension wurde das Problem erst 1998 gelöst. Warum ist es so schwierig?

Es ist ein Optimierungsproblem mit einer unendlichen Anzahl von Freiheitsgraden (Parameter, Anm. d. Red.). Ausserdem ist die Lösung nicht eindeutig: Die beste dreidimensionale Packung enthält sechseckige Schichten, aber man kann sie auf unendlich viele Arten verschieben, ohne die Anordnung zu zerstören. Ab den 1950er-Jahren wurden Wege gefunden, das Problem mit einer begrenzten Anzahl von Parametern neu zu formulieren, aber es blieb unheimlich komplex.

 

Wenn man den Weg sieht, wie ein Problem gelöst werden kann, ist es eigentlich schon gelöst

 

Wann wagten Sie sich in die achte Dimension des Kugelverpackungsproblems?

2014 bei meinem Postdoc an der Humboldt-Universität zu Berlin. Es war ein Wagnis, denn in der Mathematik weiss man nie, ob man Erfolg haben wird oder nicht. Wenn man aber den Weg sieht, wie ein Problem gelöst werden kann, ist es eigentlich schon gelöst.

Sie haben das Problem auch in der 24. Dimension gelöst. Warum 8 und 24?

Weil diese Dimensionen besondere Symmetrien haben. 2001 hatten die Mathematiker Cohn und Elkies von der Harvard-Universität die Dichte der Kugelpackung in der 8. und 24. Dimension mithilfe des Computers sehr genau geschätzt, konnten aber keine explizite Form für die von ihnen verwendete Hilfsfunktion angeben. Mein Beitrag bestand darin, diese Funktion zu finden. Ich verwendete sogenannte Modulformen, an denen ich während meiner Doktorarbeit gearbeitet hatte. Ein wenig Glück spielte auch eine Rolle.

Glück? Fachleute sagen elegant, kreativ.

Meine Arbeit gleicht der Goldsuche. Man rüstet sich aus, geht nach Alaska, beginnt zu graben. Es gibt viel Staub, aber mit etwas Glück findet man kleine Nuggets: Formeln, Ergebnisse, Theoreme. Wir arbeiten mit Ideen, und die meisten gehen sang- und klanglos unter. Mein Ansatz ist etwas naiv. Ich arbeite an Problemen, die so einfach sind, dass ich sie verstehen kann, die aber eine grundlegende Frage aufwerfen. Danach gehe ich sie mit allen Werkzeugen an, die ich habe, und entwickle Werkzeuge, die mir noch fehlen. Man muss sich einen Überblick über das Thema verschaffen. Ich bin eher eine Person, die Probleme löst, als eine, die Theorien entwickelt.

 

Ich sage nicht gerne zu viel über meine nächsten Projekte, das bringt Unglück.

 

Welches sind Ihre nächsten Projekte?

Ich werde mit geometrischer Optimierung weitermachen. Das ist ein spannendes Gebiet, das unendlich viele Probleme bietet. Aber ich sage nicht gerne zu viel, das bringt Unglück.

Aberglauben? Oder befürchten Sie, dass die Konkurrenz Ihr Thema stiehlt?

Ein bisschen von beidem, glaube ich. Ein mathematisches Problem ist auch etwas Intimes, das ich für mich behalten möchte. Aber ich kann verraten, dass ich mit Kugelverpackungsproblemen in Räumen mit vielen Dimensionen arbeiten werde. Wir wissen, dass die Dichte mit zunehmender Anzahl Dimensionen gegen null strebt, das heisst: Zwischen den Kugeln gibt es immer mehr leeren Raum. Aber wir wissen nicht, wie schnell diese Abnahme erfolgt. Ausserdem ist die beste Anordnung wahrscheinlich zufällig, nicht strukturiert wie in Räumen niedriger Dimensionen. Eine wichtige Frage: Siegt der Zufall über die Struktur?

Hätte dies einen praktischen Nutzen?

Ja, sie ist wichtig für die Informationstheorie: Wie können Nachrichten beim Senden am besten verdichtet und bei Übertragungsfehlern korrigiert werden? Die Arbeiten des Gründers der Informationstheorie, Claude Shannon, zeigen, dass die Anzahl der Bits pro Nachricht möglichst gross sein muss – und es gibt eine Entsprechung zu den Dimensionen der Kugeln.

 

Es ist schwer zu erkennen, ob Erinnerung echt oder rekonstruiert ist, wenn man viel über die Vergangenheit hört

 

Sie sind erst die zweite Frau von 64 mit einer Fields-Medaille ausgezeichneten Personen. Soll man dies thematisieren?

Ich hoffe, diese Frage wird mir eines Tages nicht mehr gestellt. Nicht für mich, sondern für die Mathematik! Vielfalt ist wichtig, denn Forschende bringen immer auch ihre Persönlichkeit in die Wissenschaft ein. An meinem Institut sieht es nicht schlecht aus: Sieben von dreissig Professuren sind von Frauen besetzt.

Sie sind in Kiew noch in der ehemaligen UdSSR aufgewachsen. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?

Nicht viele, ich war sechs Jahre alt, als sich die Sowjetunion auflöste. Es ist schwer zu erkennen, ob die Erinnerung echt oder rekonstruiert ist, wenn man viel über die Vergangenheit hört.

Wie erleben Sie den aktuellen Krieg?

Meine Schwestern und ihre Kinder haben Kiew zu Beginn der Invasion verlassen, und wir haben sie für einige Monate aufgenommen. Jetzt haben sie eine eigene Unterkunft. Meine Grosseltern wollen die Ukraine nicht verlassen. Wir haben alles getan, was wir konnten, um ihnen zu helfen, unter anderem mit der Heizung.

 

Arbeiten Sie mit ukrainischen Einrichtungen zusammen?

Ja, ich habe diesen Sommer meine Alma Mater besucht, die Nationale Taras-Schewtschenko-Universität Kiew, wo ich seit drei Jahren einen Online-Kurs anbiete.

Könnte Ihre internationale Anerkennung die Studierenden dort inspirieren?

Ich weiss nicht, wie sehr ich ein Vorbild für die Menschen vor Ort bin. Ich war nie in einer vergleichbaren Situation. Die Forschenden, die dort lehren, sind sicher sehr inspirierend. Es ist aber wichtig, dass sie Unterstützung von aussen spüren. Ich hoffe, die Mathematik hilft ihnen, den Alltag etwas zu vergessen.

Der Artikel von Daniel Saraga wurde von Horizonte- dem Schweizer Forschungsmagazin zur Verfügung gestellt.

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