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Fokus

Gastrojournal – Corinne Nusskern – 

20 Jahre  Progresso: Für Menschen ohne Abschluss ist die Basisbildung beruflicher Türöffner.

Die Betriebe profitieren von motivierten und besser ausgebildeten Mitarbeitenden.

Verlierer? Keine!

Mittagszeit in den Räumen von Gastro St. Gallen. «Darf ich Ihnen als Vorspeise Gemüse- oder Geflügelkroketten servieren?», fragt Lilia Jund (42) lächelnd. Ihr Deutsch ist nicht perfekt, aber gut verständlich. Die Mutter von vier Kindern stammt aus Moldawien und absolviert aktuell den zweiten Blockkurs des Progresso-Lehrgangs im Fachbereich Service. Marlise van Grondelle, seit 2016 Progresso-Fachlehrerin Service, weist sie auf den Brotteller hin. So werden die Kursteilnehmenden permanent begleitet und erhalten stets Feedback.

Die zwei Menüs haben die Absolventen im Fachbereich Küche von Grund auf selbst gekocht: Rindsschmorbraten Burgunder Art mit Schupfnudeln und Rotkraut sowie eine glasierte Kalbshaxe mit Kartoffelnocken, Stangensellerie und Tomaten. Zum Dessert zweierlei Rahmgefrorenes. Es schmeckt hervorragend.

 

Mehr Gratis geht nicht
Progresso, initiiert von Hotel & Gastro formation Schweiz (siehe 3 Fragen rechts), feiert dieses Jahr Jubiläum: Seit 20 Jahren können erwachsene Mitarbeitende ohne Abschluss im Gastgewerbe die Basisbildung Progresso in den Fachbereichen Küche, Service, Hauswirtschaft oder Systemgastronomie in allen drei Sprachregionen absolvieren. Progresso wird von den Sozialpartnern GastroSuisse, HotellerieSuisse, Hotel & Gastro Union, Unia, Syna und Swiss Catering Association unterstützt.

Die drei Blockkurse (Theorie und Praxis) dauern insgesamt fünf Wochen. Für Teilnehmende, deren Betrieb dem L-GAV unterstellt ist, ist die Ausbildung – inklusive Unterrichtsmaterial, Verpflegung und teilweise auch die Übernachtung – bis Ende 2022 kostenlos. Während die Kursteilnehmenden den vollen Lohn bekommen, erhält der Arbeitgeber für die Absenz seines Mitarbeitenden eine Arbeitsausfallentschädigung. Je nach Stundenpensum des Mitarbeitenden, das mindestens 40 Prozent betragen muss, bis zu 2700 Franken.
Die zwölf Teilnehmenden in St. Gallen kommen ursprünglich aus Taiwan, Uruguay, Afghanistan, Portugal, Italien, Eritrea, Nepal, Äthiopien und Moldawien, auch eine Schweizerin ist dabei. Fast alle sind aus Eigeninitiative hier, andere werden vom Betrieb geschickt.

 

Das allererste offizielle Zertifikat
Es kommt im Gastgewerbe oft vor, dass Ungelernte jahrelang ohne Abschluss arbeiten. Bekommen sie die Möglichkeit zu einer Ausbildung, wächst ihr Berufsstolz enorm. «Dies zeigt sich stark in ihrer Dankbarkeit. Dafür, dass man ihnen etwas beibringt. Für sehr viele ist es eine existenzielle Frage», erklärt Jean Claude Schmocker (48), Leiter Bildungsmarketing und Projekte bei Hotel & Gastro formation in Weggis LU, Projektleiter der Swiss und World Skills und seit zwei Jahren Progresso-Fachspezialist. «Der Progresso-Lehrgang ist für die meisten Teilnehmenden das allererste Zertifikat, das sie in der Schweiz in Händen halten.»

Und die Goodies, die nach Abschluss winken, sind nicht ohne: 200 Franken mehr Mindestlohn sowie die Möglichkeit, die verkürzte modulare Grundausbildung EBA und danach die Berufslehre EFZ zu absolvieren. Dies kommt auch dem akuten Fachkräftemangel entgegen. Die grösste Hürde auf dem Weg dorthin? Marlise van Grondelle sagt: «Die Sprache.» Paula Elmiger, seit 2015 Fachlehrerin Küche, stimmt zu und erzählt von einem Teilnehmer, der sehr schlecht Deutsch sprach und in seinem Betrieb zu diesem Zeitpunkt nur abgewaschen hat. «Kürzlich sah ich ihn beim modulen EBA wieder, wo er als Bester abschloss», freut sich Elmiger. «Unser Job ist sinnvoll, wir können etwas bewegen.»

Tigist Taddese Kassa (42), die neben Elmiger in Töpfen rührt, stammt aus Äthiopien und arbeitet bei Malaika Catering in Zürich. «Ich habe so viel gelernt», sagt sie. «Vor allem die Mise en Place, nun weiss ich genau, wie viel ich für wie viele Gäste benötige.»

 

Schweizer Weine? Eine neue Welt!
In der Progresso-Küche ist jeder für einen Tag Küchenchef und teilt die anderen für Fleisch, Gemüse oder den Abwasch ein. Das Küchenteam muss sich selbst organisieren, alles passiert im Austausch, tags darauf ist jemand anders Küchenchef. Heute ist es die Thailänderin Kanitta Chaiyapoom (41). Sie arbeitet seit drei Jahren bei Lilys in Basel: «Mein Deutsch ist dank Progresso so viel besser. Ich kann nun selber Rezepte schreiben. Zudem ist die Teamarbeit sensationell.»

Konzentriert und wissbegierig meistern sie die Aufgaben gemeinsam. Auf Teamgeist wird höchster Wert gelegt. Bei der Abschlussprüfung nimmt die Teamaufgabe 20 Prozent ein. Elmiger fügt an: «Der soziale Umgang ist wichtig. Jemand kann noch so ein guter Koch sein, ohne funktioniert es nicht.»

Van Grondelle bringt den Service-Absolventen gerade die Schweizer Weine näher. «Es ist für sie eine neue Welt», sagt sie. «Ich erkläre die Geografie, die Traubensorten, die Namen der Weine und zeige ihnen Flaschen, damit sie erfassen, wie diese aussehen.»

 

Den Berufsstolz wecken
Bis heute haben über 3000 Absolvierende dank Progresso einen Start für ihre berufliche Laufbahn bekommen. 2022 finden gesamtschweizerisch über 100 Progresso-Kurse an 14 Standorten statt. Dennoch halten sich bei einigen Arbeitgebern zwei Vorurteile: Erst fehle die Person fünf Wochen im Betrieb, dann steige noch der Mindestlohn um 200 Franken an. Schmocker erklärt, dass Unternehmen mit einem Progresso-Absolventen eine Qualitäts- und Produktionssteigerung erhalten. «Es geht auch darum, diesen Menschen ein Ziel und das Gefühl zu geben, dass jemand an sie glaubt», sagt er. «Sie gewinnen Motivation und stärken ihr Selbstbewusstsein. Der Berufsstolz auf dieses schweizweit anerkannte Zertifikat ist unglaublich.»

Am letzten Tag kreieren die Absolventen jeweils ein multinationales Buffet und laden Gäste ein. Schmocker erinnert sich an seinen emotionalsten Moment, als ein Progresso-Absolvent aus Afrika sich vor allen Anwesenden bei seinem Chef für diese Möglichkeit bedankte. «Das ist für mich Progresso, diesen Moment der Dankbarkeit mit den Kursteilnehmenden teilen zu können. Für sie ist es der Beginn ihres beruflichen Werdegangs. Für mich und die Fachlehrer ist es eine Erfüllung, Wissen weiterzugeben.»

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3 FRAGEN AN HEINZ GERIG
Heinz Gerig (60), Leiter Basisqualifikation, und Peter Meier (58), Leiter Höhere Berufsbildung (beide bei Hotel & Gastro formation Schweiz), waren 2001 die Gründerväter von Progresso, zusammen mit Alain Rohrbach, zuständig für die Romandie und heute pensioniert.

 

1—Was waren 2001 die Gründe, Progresso ins Leben zu rufen?
Die Idee und der Auftrag kam vom L-GAV-Ausschuss in Basel. Der Grund war, dass die vielen Hilfskräfte in unserer Branche keine Chance für eine Aus- oder Weiterbildung hatten. An eine Lehre trauten sie sich oft nicht heran. Man musste etwas machen, damit sie sich weiterentwickeln können. Daraufhin erstellten wir das Progresso-Konzept.

2—Was verbindet Sie persönlich mit Progresso-Teilnehmenden?
Ich sehe, wie diese Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Rucksäcken alles geben und sich Tag für Tag in höhere Sphären steigern, weil sie spüren, dass Bildung Spass macht und sie etwas mitnehmen können. Diese intrinsische Motivation mitzuverfolgen, ist richtig toll. Das lässt auch meine Augen leuchten.

3—Ist Ihnen eine Ankedote speziell in Erinnerung geblieben?
Ein Teilnehmer aus Jamaika verschwand am letzten Tag während den Vorbereitungen zum Multikultibuffet. Nach zwei Stunden war er wieder da. Ich fragte: «Wo waren Sie?» Er: «Überraschung.» Während des Abschlussbuffets überreichte er mir eine Single mit seinem allerersten, vorhin aufgenommenen Reggaesong.
Für mich – aus Dankbarkeit.

 

 

Fotolegende Köche:
Schulter an Schulter lernen: die Fachlehrerin Küche Paula Elmiger mit Progresso-Teilnehmerin Tigist Taddese Kassa (v. l.)

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