Das Ernährungssystem muss dringend umgebaut werden – und diese Nutzpflanzen könnten dabei helfen

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NZZ Magazin – Juliette Irmer

Pflanzen wie Zwerghirse oder Cassava sind reich an Nährstoffen und wachsen auch auf kargen Böden. Und doch spielten sie bisher weder in der Forschung noch auf dem Markt eine Rolle. Mit dem Klimawandel ändert sich das.

Einige wenige haben es bis in die Regale der Supermärkte geschafft, etwa Hirse, Süsskartoffeln, Kichererbsen und Quinoa. Allesamt gehören sie zur Gruppe der «Orphan-Crops», der vernachlässigten Nutzpflanzen.

Von der Wissenschaft werden sie kaum beachtet, und auf dem Weltmarkt spielen sie praktisch keine Rolle. Dabei ernähren manche dieser Pflanzen Millionen Menschen, etwa die stärkehaltige Cassava-Wurzelknolle (Maniok) und die Zwerghirse Tef.

Ihre wirtschaftliche Bedeutung wurde von der Industrie als gering eingeschätzt, entsprechend wenig wurde an ihnen geforscht. Viele Sorten sind genetisch schlecht charakterisiert, häufig ist das Erbgut nicht entschlüsselt. Damit fehlen wichtige Informationen, um den Ertrag und die Resistenz gegen Schädlinge zu verbessern. Viele der Orphan-Crops besitzen aber Eigenschaften, die sie im Zuge des Klimawandels interessant machen: Sie sind genügsam und widerstandsfähig, wachsen in kargen Böden und tolerieren Trockenheit.

 

Die Hälfte aller von Menschen konsumierten Kalorien stammt aus nur drei Getreidesorten: Weizen, Mais und Reis.

 

Tef etwa stammt aus Äthiopien, wo die Zwerghirse seit 6000 Jahren von Kleinbauern angebaut wird und auch heute noch in Form des traditionellen Fladenbrots Injera zu den Grundnahrungsmitteln zählt. Die Zwerghirse ist anspruchslos und reich an Nährstoffen: Sie weist einen natürlich hohen Eisen- und Zinkgehalt auf. «Tef hat ausserdem einen geringen glykämischen Index und enthält kein Gluten, weshalb es inzwischen auch in den Industrieländern nachgefragt wird», erklärt der Biologe Zerihun Tadele von der Universität Bern, der die Pflanze im Rahmen des «Tef Improvement Project» seit zwei Jahrzehnten erforscht und verbessert.

Verdoppelung des Ertrags

So robust Tef ist, der Ertrag ist gering: Die langen Stiele knicken bei Wind und Regen unter der Last der Körner schnell um. Das Team um Tadele hat mittlerweile mehrere Sorten mit kürzeren und kräftigeren Halmen für unterschiedliche Anbaubedingungen entwickelt. Eine trägt den verheissungsvollen Namen «Ebba»: Segen.

Mit den neuen Sorten konnte der durchschnittliche Ertrag von 1,7 Tonnen pro Hektare auf rund 3 Tonnen pro Hektare gesteigert werden. Das entspricht dem durchschnittlichen Weizenertrag in Äthiopien. Zum Vergleich: In Europa erbringt Weizen durchschnittlich 6 bis 7 Tonnen pro Hektare. «Die fünf Sorten wurden 2017, 2019 und 2021 nach mehrjährigen Feldtests in Äthiopien zugelassen und sollen Kleinbauern zu einer besseren Ernte verhelfen», sagt Tadele.

Die züchterische Verbesserung solcher Pflanzen ist wichtig, um die Ernährungssicherheit in ohnehin gefährdeten Ländern zu verbessern. Denn das herrschende Welternährungssystem ist fragil. Das zeigen die Folgen der Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg. Die Hälfte aller von Menschen konsumierten Kalorien stammt aus nur drei Getreidesorten: Weizen, Mais und Reis. Das Gros dieser drei Kulturen wird überdies nur in einer Handvoll Länder produziert: USA, China, Brasilien, Indien und Europa, die mithilfe von Dünger, Pestiziden und Bewässerung einen hohen Ertrag zu einem günstigen Preis erwirtschaften.

«Diese Konzentration auf mehreren Ebenen erhöht die Anfälligkeit für weltweite Ernährungskrisen, die tiefgreifende Folgen für die am stärksten marginalisierten Bevölkerungsgruppen der Welt haben», schreibt die Expertin für globale Ernährungssicherheit Jennifer Clapp von der Universität in Waterloo, Kanada, in einem Fachbeitrag. Etliche Länder, darunter viele der ärmsten, sind auf Importe dieser Grundgetreide angewiesen, um ihre Bevölkerung zu ernähren. Sobald die Produktion oder der Handel mit einer dieser Sorten zurückgeht, steigen die Preise, und mehr Menschen leiden Hunger.

Experten sind sich einig, dass das Ernährungssystem dringend umgebaut werden muss: Bis zum Jahr 2050 könnte die Weltbevölkerung auf 10 Milliarden Menschen anwachsen.

Hinzu kommen die Folgen des zunehmend spürbaren Klimawandels. Wetterextreme wie Hitzewellen und Überschwemmungen gefährden die Ernten weltweit. Das Dilemma: Die Intensivlandwirtschaft ist nicht nur Opfer des Klimawandels, sondern auch Verursacher. Denn sie emittiert klimaschädliche Gase und trägt massgeblich zu Landverödung, Wasserverschmutzung und dem Verlust an Biodiversität bei.

Experten sind sich daher einig, dass das Ernährungssystem dringend umgebaut werden muss: Bis zum Jahr 2050 könnte die Weltbevölkerung auf 10 Milliarden Menschen anwachsen. Am stärksten nimmt sie in den Ländern des globalen Südens zu, wo heute schon die Mehrheit der über 800 Millionen Hungerleidenden lebt – in Ländern, die Orphan-Crops anbauen und häufig zusätzlich auf Importe von Grundgetreiden angewiesen sind.

Eine der notwendigen Massnahmen ist daher die Stärkung der regionalen Lebensmittelproduktion. Und das heisst auch: die züchterische Verbesserung lokal angebauter Pflanzen. Bisher sind Stiftungsgelder der Hauptfinanzierungsweg für die Forschung an Orphan-Crops. Die Forschung an Tef wird von der Syngenta-Stiftung für nachhaltige Landwirtschaft gefördert, jene für Cassava von der Bill & Melinda Gates Foundation. «Das Geld hat die Forschung an Cassava enorm vorangebracht», sagt Wilhelm Gruissem, seit kurzem Emeritus der ETH Zürich, der nun in Taiwan an der «Kartoffel der Tropen» forscht.

Cassava ernährt fast eine Milliarde Menschen. Die Pflanze toleriert Trockenheit und gedeiht auch in kargen Böden, aber sie ist anfällig für Viruserkrankungen, die die Ernte empfindlich schmälern können. Mithilfe der klassischen Gentechnik, also des Einfügens eines artfremden Gens in das Cassava-Erbgut, ist es einer amerikanischen Forschergruppe gelungen, eine gegen das Braunstreifen-Virus resistente Sorte zu züchten. Kenya hat diese Pflanze 2021 zugelassen.

Gruissems Team hat mithilfe aufwendiger Genomanalysen jenes Gen entdeckt, das eine bestimmte Resistenz gegen die Cassava-Mosaikkrankheit vermittelt. «Möglicherweise lässt sich das Gen mithilfe der Genschere Crispr/Cas punktgenau editieren, um resistente Pflanzen zu erhalten», so Gruissem. Dank den Stiftungsgeldern existieren für Tef und Cassava bereits entschlüsselte Genome in hoher Qualität – eine Voraussetzung für den Einsatz moderner Zuchtmethoden wie Genome-Editing. «Bevor wir Gene editieren, müssen wir aber wissen, wofür sie zuständig sind und wie sie reguliert werden», erklärt Gruissem.

Für Weizen und Mais können Züchter auf grosses Wissen zurückgreifen: Viele Gene für die Samenentwicklung sind bekannt, ausserdem jene, die bei Schädlingsbefall oder Trockenheitsstress hochreguliert werden. Davon kann die Orphan-Crop-Forschung profitieren, indem man nach ähnlichen Genen sucht.

«Setzt man ausreichend Mittel ein, um Orphan-Crops genetisch gut zu charakterisieren, hat man mit den neuen Zuchtmethoden die Chance, sie schneller als mit herkömmlichen Methoden zu verbessern», sagt Gruissem. Initiativen gibt es bereits. So hat sich das African Orphan Crops Consortium – ein internationales Forschungskomitee – zum Ziel gesetzt, das Erbgut von 101 afrikanischen Nutzpflanzen zu entschlüsseln. Acht Genome wurden bereits veröffentlicht, vier weitere stehen kurz davor. Getestet wurde die Genschere ausser bei Cassava und Tef auch bei Kichererbsen, Auberginen, Bananen und der Andenbeere Physalis.

«Methode frei von Ideologie wählen»

Der Einsatz von Crispr/Cas unterliegt in Orphan-Crops indes den gleichen Einschränkungen wie in den gängigen Nutzpflanzen: Es ist knifflig, die Genschere in die Pflanzenzellen zu bekommen und die editierten Keimlinge heranzuziehen. Zudem lassen sich komplexe Merkmale wie der Ertrag, die durch viele Gene reguliert werden, meist nicht durch das Inaktivieren eines einzelnen Gens beeinflussen.

«Genome-Editing ist eine vielversprechende Methode, aber nicht die alleinige Lösung», sagt Zerihun Tadele, der für die Zucht seiner Tef-Sorten bewusst auf den Einsatz von Gentechnik verzichtet: «In Äthiopien gibt es keine entsprechende Gesetzgebung, und die Akzeptanz ist gering.»

Neben dem Mangel an Interesse und Investitionen erschweren damit auch die unterschiedlichen Gentechnik-Einschätzungen der Länder die Erforschung und Entwicklung von Orphan-Crops. «Wir sollten in der Pflanzenzucht die Methode wählen, die am einfachsten zum Ziel führt», sagt Gruissem, «frei von jeder Ideologie.»

Der Artikel von Juliette Irmer

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