Darf man Kindern Gesundheit aufzwingen? Oder muss man sogar?

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watson – Sandra Casalini

Kürzlich ist mir das Buch «Gesund genug» der Schweizer Autorin Ursula Fricker in die Hände gekommen. Sie beschreibt darin ihre Kindheit mit ihrem gesundheitsbesessenen Vater. Beim Lesen stellte sich wohl nicht nur mir die Frage: Wie weit darf man seine eigenen Gesundheits-Mantras seinen Kindern aufdrücken?

Ironischerweise starb Ursula Frickers Vater ausgerechnet an Darmkrebs. An seinem Sterbebett blickt sie auf ihre Kindheit in einer Familie zurück, die sie als eine Art «Vier-Personen-Sekte» beschreibt. Abgesehen vom krankhaft gesunden Essen war den Kindern zum Beispiel der Schwimmunterricht verboten, wegen des Chlors im Wasser.

Wochenlang Spaghetti ohne Sauce?

Total übertrieben, keine Frage. Aber als Eltern ist man für die Gesundheit seiner Kinder verantwortlich – und die Frage danach, ob es richtig ist, total konsequent die eigenen Massstäbe anzuwenden, finde ich eine sehr schwierige. Ganz am Anfang gibts ja noch sowas wie Leitlinien, zumindest, was das Essen angeht: Vier Monate lang ausschliesslich Muttermilch, Kuhmilch nicht vor dem ersten Geburtstag, Gemüse- vor Früchtebrei, möglichst wenig Zucker.

Danach wirds kompliziert. Als meine Kinder jünger waren, hatte ich total gängige Eltern-Vorstellungen im Kopf, die ich gar nie hinterfragt habe. Zum Beispiel, dass Kinder möglichst viel Gemüse und möglichst wenig Zucker essen sollten. So gabs bei uns die Regel, dass Dessert nur bekommt, wer das Gemüse aufisst. Im Nachhinein bin ich kein grosser Fan mehr von dieser – weil so das Gemüse einen negativen Touch bekam. Aber man kann das Kind ja auch nicht einfach wochenlang Spaghetti ohne Sauce essen lassen. Oder doch?

«Im Primarschulalter haute mein Sohn sein gesamtes Taschengeld für Süssigkeiten raus. Sollte ich ihm das verbieten? Durfte ich ihm das verbieten? Musste ich ihm das verbieten?»

Ein befreundetes Paar von mir mit zwei Kindern im Primarschulalter ernährt sich vegan. Dass zu Hause keine tierischen Produkte konsumiert werden, ist sowohl für sie als auch für ihre Kinder normal. Einmal pro Woche essen die beiden Kids im Hort, wo sie auch Fleisch bekommen. Und wenn auswärts gegessen wird, darfs für sie auch mal ein Burger sein. Dies scheint mir recht vernünftig – im Gegenteil zu der mir unbekannten Mutter, die ich mal an einer Geburtstagsparty beobachtet habe, wie sie ihrem Sohn hastig eine Handvoll Gummibärchen reinstopfte und flüsterte «Aber nichts dem Papi sagen» (ob er die Dinger wegen des Zuckergehalts oder der tierischen Fette nicht essen durfte, und letztere aus gesundheitstechnischen, ideologischen oder religiösen Gründen, weiss ich nicht).

Je älter die Kinder werden, desto komplizierter wirds. Im Primarschulalter haute mein Sohn sein gesamtes Taschengeld für Süssigkeiten raus. Sollte ich ihm das verbieten? Durfte ich ihm das verbieten? Musste ich ihm das verbieten? Ich habe bis heute keine Antwort drauf – ausser, dass ihm dieser Zuckerkonsum im Nachhinein gesehen nicht geschadet hat.

Was taugt die Vorbildfunktion?

Das Wichtigste, da sind sich Expertinnen und Experten einig, ist ja eh die Vorbildfunktion. Wobei ich auch daran meine Zweifel habe. Mein Vater war starker Raucher, meine Mutter Gelegenheitsraucherin. Ich habe nie eine Zigarette angefasst, weil ich dieses Gequalme als Kind so unfassbar gruusig fand. Mein Bruder raucht, seit er 15 ist. Wir hatten beide die gleichen Vorbilder.

Meine Kinder sahen und sehen mich kaum je Süsses konsumieren – aus dem einfachen Grund, dass ich es nicht besonders mag. Deshalb gabs bei uns zu Hause auch höchstens mal ein Glacé oder ein Stück Schoggi, weil wir gar nicht viel anderes im Haus hatten. Süssgetränke gabs nur auswärts (auch dies nur bedingt aus erzieherischen Massnahmen, sondern auch, weil ich sie nicht mag). Manchmal frage ich mich, ob sie heute – sie sind 18 und 16 Jahre alt – nicht ganz so viel Süsskram und Cola in ihren Zimmern horten würden, hätte es früher mehr davon gegeben.

Nur noch gut gemeinte Ratschläge

Jedenfalls hat sich die Frage danach, wie sehr ich ihnen in Gesundheitsfragen noch reinreden darf, in ihrem Alter erledigt. Die Antwort ist: gar nicht. Wenn sie zu Hause essen, wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Ansonsten muss ich mich mit gut gemeinten Ratschlägen begnügen, die meist eh nur ein Augenrollen ernten: «Es würde nicht schaden, wenn du mal vor Mitternacht ins Bett gehst.» – «Man kann ja auch mal zu Fuss irgendwohin.» – «Meinst du nicht, dass ein Glacé zum Dessert reicht?» Und darauf hoffen, dass sie irgendwann kommen und sagen: «Du hattest ja SO recht, Mama!»

Der Artikel von Sandra Casalini

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