annabelle.ch – Shoko Bethke
Erschienen ist er schon 2011, nun endlich gibt es den dritten Roman der japanischen Starautorin Mieko Kawakami auch auf Deutsch. Seine Botschaft ist dabei jedem selbst überlassen, wie sie uns im Interview erzählt.
Mieko Kawakami wird als literarische Sensation aus Japan gehandelt, mit Preisen überhäuft und laut eigenen Angaben oft missverstanden. «Ich erreiche Menschen, die lesen, um zu überleben», wird sie später im Gespräch sagen.
Per Zoom schaltet sich die 46-Jährige aus ihrem Wohnzimmer in Tokio zu, im Hintergrund ist ein braunes Sofa mit rosa Kissen zu sehen, davor ein kleiner Tisch in Wolkenform. Ausserdem häufen sich Fotos und Bilder auf einem Wandregal. Kawakami zieht den Vorhang am Fenster zu, damit ihr Gesicht besser zu erkennen ist. Es ist Sommer in Japan, sie trägt ein gestreiftes Shirt und ihr Gesicht glänzt leicht.
annabelle: Mieko Kawakami, die Protagonistin Ihres Romans «All die Liebenden der Nacht» ist introvertiert und oft allein. Ist es nicht schwierig, in Tokio allein zu sein?
Mieko Kawakami: Den Menschen in Tokio fällt es schwer, sich für andere Menschen zu interessieren, weil sie nicht die Zeit dafür haben. Daher sind sicher viele Menschen einsam, obwohl sie unter vielen Menschen oder beruflich gut beschäftigt sind.
Sie waren Sängerin. Was hat Sie dazu gebracht, Schriftstellerin zu werden?
Ich wollte nie Schriftstellerin werden. Zuerst habe ich gesungen und einen Blog geschrieben. Danach habe ich Gedichte geschrieben, und ein Lektor, der sie las, fragte mich, ob ich einen Roman schreiben wolle. Ich habe immer gern gelesen, aber ich habe das Schreiben nicht professionell studiert.
Wie war es denn, einen Roman zu schreiben?
Es hat Spass gemacht. Vor allem, wenn die Leute gleich nach dem nächsten Werk fragen, was dann wiederum zum nächsten Roman führt. Mein erster Roman wurde für einen Preis nominiert, ich war überrascht, dass es Leute gab, die ihn zu schätzen wussten.
Wie lange brauchen Sie normalerweise, um ein Buch zu schreiben?
«All die Liebenden der Nacht» hat etwa sechs Monate gedauert, ich habe also ziemlich getrödelt.
Nur sechs Monate, und das nennen Sie trödeln?
Wenn ich jetzt so zurückblicke, finde ich schon. Zu dem Zeitpunkt habe ich natürlich mein Bestes gegeben.
Haben Sie sich schon als Kind Geschichten ausgedacht, geschrieben?
Ich habe nie geschrieben, aber ich war ein sehr sensibles, philosophisches Kind. Ich habe immer über Dinge nachgedacht. Zum Beispiel, warum wir überhaupt leben, wenn wir sowieso eines Tages sterben werden, oder ob die Zeit wirklich fliesst.
Ein Hauptaugenmerk im Roman liegt auf der toxischen Trinkgewohnheit der Protagonistin. Alkohol kommt in vielen Kulturen zum Einsatz, wenn Beziehungen geknüpft oder geschäftliche Verbindungen besiegelt werden. Auch in Japan?
In dieser Hinsicht ist Japan ziemlich einzigartig. In der japanischen Gesellschaft werden jene wertgeschätzt, die gebildet und akademisch sind, jene, die Erwachsenen nicht widersprechen. Dabei existiert die Illusion, dass Menschen erst ihre wahren Gefühle offenbaren können, wenn sie getrunken haben. Daher wird auch im beruflichen Kontext viel getrunken, um Spannungen abzubauen.
Der Protagonistin im Buch geht es da ja ähnlich. Sie ist nicht in der Lage, dem Menschen, der ihr etwas bedeutet, ohne Alkoholkonsum zu begegnen. Beruht das auf Ihrer eigenen Erfahrung?
Es ist nicht meine Erfahrung, aber ich kann sie nachvollziehen. Seriöse Menschen leben nun mal ständig in einem Zustand der Anspannung.
Sind Veranstaltungen, bei denen viel getrunken wird, für Frauen noch immer schwierig?
In der Tat. Bis vor etwa zehn Jahren war es üblich, dass bei beruf lichen Versammlungen die Frauen das Essen für ihre Kollegen servierten. Das ist sehr erniedrigend. Vor allem, weil alte Männer mit verschränkten Armen dasassen, und es einzig die Aufgabe der jungen Frauen war, Alkohol einzuschenken. Aber das hat sich in letzter Zeit geändert. Dass Frauen aber als Elemente auf Partys genutzt werden, um die Stimmung aufzuheitern, ist glaube ich noch immer der Fall.
Was meinen Sie damit, dass Frauen «als Elemente» genutzt werden?
Sie werden wie Dekoration behandelt. Selbst im Fernsehen sind die Moderatoren immer noch alles Männer, und die jungen, hübschen Frauen sind dafür da, um neben ihnen zu stehen und zu lächeln.
Gibt es diese Art des Sexismus auch unter Schriftsteller:innen? Als Sie Ihren Debütroman geschrieben haben, waren Sie mit 31 Jahren ja noch sehr jung. Haben Sie da schlechte Erfahrungen gemacht?
Am Anfang habe ich eine Menge schlechter Erfahrungen gemacht. Ich mochte Mode und habe mich gerne stark geschminkt, was für mich nur der Ausdruck meiner Person sein sollte. Aber es gab Leute, die sich über mich lustig machten und sagten, ich würde mein Aussehen verkaufen. Sie sagten, ich sei nur wegen meines Aussehens beliebt und dass es nichts mit dem Inhalt des Buches zu tun hätte. Ich liess das aber nicht zu nah an mich heran. Es gab aber auch ein ernsthaftes Stalking-Problem und Morddrohungen. Wegen Letzteren musste ich einen juristischen Prozess durchlaufen.
Der Gerichtsprozess und das Stalking dauern immer noch an?
Der Prozess ist vorbei, aber das Erschreckende an Stalking-Problemen ist, dass es kein klares Ende gibt. Es ist ein ständiges Auf und Ab der Angst. Aber auch wenn Morddrohungen absolut inakzeptabel sind, denke ich, dass es manchmal wichtig ist, negative Rückmeldungen bis zu einem gewissen Grad zu ertragen.
Warum sollten Sie negative Rückmeldungen ertragen müssen?
Positive Rückmeldung, wohlwollende Gefühle und Wertschätzung für meine Arbeit nehme ich ja auch dankend an. Deshalb halte ich es persönlich für sinnvoll, Kritik und negative Gefühle genauso zu akzeptieren. Natürlich aber nichts, was juristische Grenzen sprengt.
Welche Rückmeldungen von Fans haben Sie glücklich gemacht?
Da gibt es viele. Literatur ist in erster Linie für eine gebildete Schicht gemacht, für Menschen, die es sich leisten können, zu lesen. Aber in letzter Zeit bekomme ich auf Instagram Fotos von Mädchen, Studierenden oder älteren Männern, die meine Bücher lesen. Junge Frauen posieren mit meinen Büchern, und das international, was mir das Gefühl gibt, dass meine Romane wirklich weltweit gelesen werden. Das macht mich glücklich. Ich bin froh, dass ich nicht nur von Kritiker: innen gelobt werde, sondern Menschen erreiche, die in ihren Schlafzimmern hocken und lesen, um zu überleben.
Glauben Sie, dass Literatur überlebenswichtig ist?
Ich denke, das hängt von der Situation der einzelnen Menschen ab. Es gibt natürlich Situationen, in denen man wirklich am Boden zerstört ist und Worte nicht einmal anfassen kann.
Sie bezeichnen sich als Feministin. Andererseits sagen Sie aber auch, dass Ihre Bücher nicht feministisch sind. Werden Sie in Zukunft jemals ein feministisches Buch schreiben?
Das ist ein Missverständnis. Ich begrüsse es, wenn die Leute meine Bücher für sich selbst interpretieren. Wenn Menschen das Gefühl haben, «Brüste und Eier» sei ein feministisches Werk, dann haben sie damit recht. Wenn andere sagen, dass es ein Roman über Armut ist, haben sie damit auch recht. Für mich ist es Sache der Lesenden, zu entscheiden, wie der Roman wahrgenommen wird. Ich persönlich sende keine Botschaft.
Sie haben keine versteckte politische Botschaft für die Leserschaft?
Nein. Selbst als Autorin kann ich nicht über alles Bescheid wissen, was ich in meinem Werk geschrieben habe. In Romanen geht es darum, die Formulierungen zu geniessen. Romane können Orte sein, an denen man unbekannten Emotionen begegnet. Romane können einen aber auch verunsichern oder einem die Kraft rauben. Ich jedenfalls betrachte Romane nicht als Mittel, um jemandem meine politische Meinung aufzudrücken.
In Interviews und in sonstigen Äusserungen sind Sie durchaus politisch.
Ja, das stimmt, ich beschäftige mich viel mit sozialen und politischen Themen. Vieles macht mich sehr wütend. Zum Beispiel ist in Japan die Pille danach praktisch nicht erlaubt. Ältere Männer haben das Sagen über die Körper der Frauen und treffen dabei Entscheidungen, die sie eigentlich nicht betreffen. Das kann doch nicht sein. Aber meine Wut trenne ich von meiner Arbeit. Ich würde zum Beispiel meine Meinung über die Aufhebung des Pillenverbots nicht direkt in ein Werk schreiben.
Aber Romane erlauben es, sich emotional auf die Figuren einzulassen. Nur wenn ein Mann mittleren Alters sich durch einen Roman in die Lage der Hauptfigur, sagen wir, eines jungen Mädchens, hineinversetzt, kann er die Situation der Frauen in Japan begreifen.
Das kann natürlich sein. Ich finde durchaus, dass es wichtig ist, Romane mit einer solch politischen Botschaft zu haben. Aber das Lesen von Geschichten ist ein eher umständlicher Vorgang. Es ist kein weltverändernder, sofortiger und unmittelbarer Prozess. Romane werden langweilig, wenn es nur noch darum geht, politische Botschaften zu vermitteln.
Bild: annabelle/Shoko Bethke