Karin Ricklin-Etter im Gespräch mit Isabelle Steiner und Kristina Keitel

Talk

WEshare1 – Es war einmal der Gott in Weiss, der alles konnte und im Alleingang entschied

Die beiden Chefärztinnen und Co-Leiterinnen des Notfallzentrums für Kinder und Jugendliche am Inselspital sprechen im Interview mit Karin Ricklin von WEshare1 darüber, wie sie ihr Topsharing im Klinikumfeld umsetzen, weshalb sie keine Göttinnen in Weiss sein wollen und wie Karriere und Familie unter einen Hut passen.

Isabelle Steiner und Kristina Keitel übernahmen im Juni 2020 ad interim die Chefärztinnenposition des Kindernotfalls am Inselspital Bern, Isabelle als Chefärztin und Kristina als ihre Stellvertretung. Ihr gemeinsamer Vorgesetzter, Prof. Matthias Kopp, schlug kurz darauf die Umwandlung vom Stellvertreterinnen-Modell in ein Topsharing vor. Da Isabelle und Kristina bereits informell viele Aspekte vom Topsharing lebten, war dieser Schritt auch für sie naheliegend. Nach der erfolgreichen gemeinsamen Bewerbung für die Chefärztinnenposition wurde die Co-Leitung der beiden im März 2021 offiziell etabliert. Seither teilen sich die beiden Frauen die Chefärztinnenposition zu je 100%. Nebst ihrem Vorgesetzten erhielten die beiden auch seitens der Inseldirektion Unterstützung für dieses Modell.

Karin Ricklin: Isabelle, Du warst zuerst als Chefärztin tätig, Kristina übte die Stellvertretungsfunktion aus. Mit der Initialisierung des Topsharings wart Ihr plötzlich gleichgestellt. Wie hast Du diesen Wechsel erlebt?

Isabelle Steiner: Den Start des Topsharings an sich empfand ich nicht als grosse Herausforderung, da Kristina bereits zuvor sehr engagiert war und sich stark involvierte. Als deutlich anspruchsvoller erlebte ich die Übernahme der Leitung ad interim. Kristina und ich mussten uns zuerst einmal finden und eruieren, wer von uns beiden in welchen Bereichen die Verantwortung trägt. Ein grosser Vorteil des Topsharings ist sicherlich, dass die klinische Verantwortung geteilt werden kann. Wenn ich zum Beispiel abwesend bin, weiss ich, dass der klinische Betrieb perfekt weiterfunktioniert.

Kristina Keitel: Für mich bedeutet die Leitungsrolle vor allem, dass ich Verantwortung übernehmen kann. Die Hauptaufgabe besteht darin, unser Team so zu unterstützen, dass die Patientenversorgung optimal gewährleistet ist und gleichzeitig die Innovation in unserem Fachgebiet vorangetrieben werden kann. Isabelle und ich sind sehr weit entfernt vom klassischen Chefarzt in Weiss, der – überspitzt gesagt – in seinem Büro sitzt und die Sekretärin im Vorzimmer Kaffee kocht. Wir leben ein kooperatives Führungsmodell mit flachen Hierarchien. Da fügt sich ein Co-Leitungsmodell gut ein.

 

KR: Du nennst die geteilte Verantwortung als Vorteil Eurer Co-Leitung, Isabelle. Was spricht sonst noch dafür, vom Stellvertreterinnen-Modell in ein Topsharing zu wechseln? Welche Vorteile zieht die Klinik aus Eurem Modell, und was habt Ihr als Tandem davon?

K: Die Klinik erhält durch unser Tandem quasi 2 für 1; zwei Gehirne mit je zwei Sichtweisen, die sich ergänzen. Chefärzt*innen, die in allem gut sind – Patientenversorgung, Management, Lehre und Forschung – das empfinde ich als eine Illusion. Durch die Kombination von Isabelle und mir hingegen können wir dieses breite Spektrum besser abdecken. Isabelle ist in der Lehre sehr stark, meine Expertise liegt in der Forschung. Gemeinsam kümmern wir uns um die Patientenversorgung und die Führungsaufgaben. Ein weiterer Vorteil ist, dass unsere Entscheidungen fundierter, weniger personenbezogen und besser abgestimmt sind im Vergleich zu einer Einzelleitung. Zudem ist das Vertretungsmodell bei der Co-Leitung klar geregelt. Als ich zum Beispiel kürzlich drei Monate im Mutterschutz war, stand fest: Isabelle trifft während meiner Abwesenheit Entscheidungen, ohne sich vorgängig mit mir abzustimmen. Ein weiteres Plus für Arbeitgebende sehe ich in der äusserst grossen Flexibilität. Es ist in der Regel immer jemand von uns anwesend. Mit nur einer Person wäre dies kaum umsetzbar.

I: Für uns selbst ist einer der zentralen Vorteile, dass wir uns gegenseitig den Rücken stärken können. Bei schwierigen Entscheiden diskutieren wir diese vorgängig und stehen dann als Einheit für den getroffenen Entscheid ein. Für die Entscheidungsfindung ist dies sehr hilfreich und wirkt ausserdem entlastend.

 

KR: Ihr werdet in Diskussionen nicht immer die gleichen Ansichten vertreten. Wie geht Ihr mit Meinungsverschiedenheiten um?

I: Das Pflegen einer offenen Kommunikation ist uns sehr wichtig. Wir hören einander zu und respektieren die Meinung des Gegenübers. Im Idealfall finden wir so einen gemeinsamen Nenner.

K: Wir sind nicht immer zu 100% gleicher Meinung, aber das wäre auch komisch. Ein gesundes Mass an Pragmatismus ist essentiell; trotz unterschiedlicher Meinungen gilt es, eine gemeinsame Position zu finden und diese dann mitzutragen.

 

KR: In der Vorbereitung zu diesem Interview bin ich auf Eure Aussage gestossen, dass eine offene Teamkultur insbesondere in der Kindernotfallmedizin «ganz, ganz wichtig» sei. Was genau meint Ihr damit? Und weshalb ist das so wichtig?

I: Es ist in unserem Umfeld zentral, dass wir eine offene Teamkultur vorleben. Wir arbeiten in der Kindernotfallmedizin zu einem hohen Grad interprofessionell und interdisziplinär. Die Behandlung eines schwer kranken Kindes beispielsweise funktioniert nur im Team. Wir alle haben daher regelmässig Trainings, die unsere Kompetenzen für gutes Teamwork aufrechterhalten und weiter stärken.

K: Zahlreiche Studien zeigen, dass eine gute Team- und Fehlerkultur sowie eine offene Kommunikation die Patientensicherheit erhöhen. Ein weiterer bedeutsamer Aspekt liegt darin, Entscheidungen nicht alleine zu treffen. Zwei Paar Augen sehen einfach mehr als ein Paar Augen, unabhängig davon, wie die Hierarchiekonstellation ist.

 

KR: Stichwort Hierarchie: Ihr habt vorhin den Gott in Weiss angesprochen. Spitäler sind in der Regel sehr stark hierarchisch organisiert. Führungsmodelle wie Eures, die auf Kooperation und der Begegnung auf Augenhöhe basieren, stellen noch immer die Ausnahme dar. Wie ist es Euch gelungen, dieses Modell erfolgreich in Eurem Umfeld zu etablieren?

I: Ein Vorteil war sicherlich, dass wir selbst wie auch unser Team noch relativ jung sind. Kristina und ich waren vorher Teil dieses Teams und es war für uns beide wichtig, dass wir in unserer neuen Chefärztinnen-Rolle nicht plötzlich als Göttinnen in Weiss vor das Team treten. Das Team sollte Teil des Prozesses sein, was dann auch sehr gut funktionierte.

K: Uns ist bewusst, dass von aussen her Erwartungen bestehen an den «klassischen» Chefarzt bzw. die «klassische» Chefärztin. Das hängt aber nicht nur mit dem Topsharing zusammen, sondern auch damit, dass wir uns als junge Frauen doppelt beweisen müssen.

 

KR: Punkto Erwartungsdruck hat Kristina Tänzler im Interview mit mir kürzlich Folgendes gesagt: «Auf neuen Job- und Topsharingduos lastet ein grosser Druck, erfolgreich sein zu müssen. Je höher sich das Tandem in der Hierarchie befindet, umso intensiver wird dieser Druck».

I: Ich erachte es eher als Vorteil, dass wir mit unserem Topsharing innerhalb und ausserhalb der Klinik auffallen. Ich habe nie erlebt, dass ich deswegen belächelt oder als nicht vollständig angesehen wurde, da ich mir den Job mit Kristina teile. Ein entscheidender Faktor ist sicher, dass wir jeweils als Einheit auftreten. Würden wir einander in den Rücken fallen, wäre dies weder produktiv noch förderlich.

K: Damit Topsharing funktioniert, braucht es auf jeden Fall Persönlichkeiten, die nicht eitel sind (lacht).

 

KR: Mit Kristina Tänzler habe ich auch über die «leaky pipeline» in der Medizin gesprochen; Frauen schliessen mittlerweile häufiger ein Medizinstudium ab als Männer, mit zunehmender Hierarchie schwindet jedoch die Anzahl der Ärztinnen. Einer der Hauptgründe sieht Tänzler in der mangelnden Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie. Wie habt Ihr das selbst erlebt? Und wie geht Ihr als Vorgesetzte von ambitionierten jungen Ärztinnen mit dem Thema um?

I: Mir ist es wichtig, dass ich jüngere Kolleginnen motivieren und ihnen aufzeigen kann, dass eine Position als Chefärztin auch mit Familie möglich ist. Die Generation der Frauen vor uns hatte oft keine Familie in solchen Positionen. Mittlerweile gibt es aber immer mehr Beispiele von Frauen, die beides miteinander vereinbaren können; Karriere und Familie.

K: Die Schweiz hat Aufholbedarf in Sachen Gleichstellung und staatlich geförderte Betreuungskonzepte, das steht ausser Frage. Damit verbunden ist ein weiteres grosses, gesellschaftliches Problem: Hohe Kinderbetreuungskosten führen oft dazu, dass Frauen aufgrund finanzieller Überlegungen aus dem Beruf aussteigen. Dennoch darf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie kein Frauenthema sein. Natürlich bin ich dankbar dafür, dass vor uns Frauen gekämpft und den Weg für uns geebnet haben. Ich lege aber auch viel Wert darauf, dass die Verbissenheit ablegt wird und die Lockerheit im Umgang mit diesem Thema überwiegt. Ich mache keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern, die ich fördere. Jede Karriere ist individuell und hat ihre eigenen Herausforderungen. Ich selbst hatte Mentorinnen und Mentoren, die mich beraten haben. Gleichzeitig spielen aber auch Glück und Zufall eine grosse Rolle. Und was sicher auch hilft, ist eine gewisse Offenheit: Wachsam sein für das, was kommt und Chancen packen, wenn sie da sind.

I: Mir fällt auf, dass die heutige Generation Frauen das Pensum oft auf 50% bis 60% reduziert, sobald sie Kinder haben. Frauen mit einem Pensum von 80% und mehr haben jedoch erfahrungsgemäss deutlich bessere Karrierechancen. Mit einem tieferen Pensum ist die Präsenzzeit viel geringer. Aufgrund der starken Einbindung in klinische Tätigkeiten fehlt die Kapazität für die Übernahme zusätzlicher Aufgaben wie Forschung und/oder Lehre. Hinzu kommt der Partner als Schlüsselfaktor: Arbeiten Mann und Frau im gleichen Pensum, ist es naheliegender, dass auch beide zu Hause mit anpacken. Ist das Arbeitspensum der Frau hingegen geringer als das ihres Partners, beobachte ich häufig, dass der Grossteil der Hausarbeit bei ihr anfällt und sie somit mehr als 100% ausgelastet ist.

K: Ich habe längere Zeit in Tansania gearbeitet und erfuhr dort, wie selbstverständlich es ist, dass Mütter voll berufstätig sind und Kinder in der Gemeinschaft gross werden. Ich stimme überein mit der Aussage vom Entwicklungspsychologen Remo Largo, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind aufzuziehen und die Kinderbetreuung somit nicht nur Sache der Eltern ist. Wir Frauen haben grosse Ansprüche an uns; im Job, zu Hause und als Mutter – überall wollen wir top sein. Das erzeugt sehr viel Druck. Ich finde es wichtig, sich Folgendes bewusst zu machen; wir können auch «gute» Mütter sein, wenn wir uns beruflich engagieren und nicht permanent zu Hause bei der Familie sind. Kinder brauchen verschiedene Bezugspersonen, von denen sie lernen und bei denen sie Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren dürfen. Wir müssen nicht alles alleine stemmen.

 

KR: Ihr plädiert für höhere Pensen bei Müttern. Was aber, wenn eine Ärztin mit viel Potential dies alles weiss und ihre Kinder trotzdem an mehr als einem Tag pro Arbeitswoche betreuen will?

I: Es geht prinzipiell darum, den Frauen zu ermöglichen, dass sie auch in höheren Pensen arbeiten können. Dies bedingt eine gewisse Flexibilität im Job. Wir haben bei uns mehrere Personen, die 50% oder 60% arbeiten. Nichtsdestotrotz: Steht die strategische Karriereförderung mit universitären Ambitionen im Vordergrund, versuchen wir, die Mütter bestmöglich darin zu unterstützen, in einem höheren Pensum weiter zu arbeiten. Hilfreich ist zum Beispiel, dass es bei uns fixe freie Tage gibt, sowohl für Mütter wie auch Väter. Im Schichtbetrieb ist dies nicht selbstverständlich und bringt einen zusätzlichen Organisationsaufwand für uns mit sich. Das nehmen wir aber in Kauf und legen Wert darauf, die Einsatzpläne jeweils vorgängig im Team anzuschauen und zu besprechen, wo es Engstellen gibt und wie wir diese allenfalls umgehen können.

 

KR: Welchen Tipp gebt Ihr Ärzt*innen, die sich ebenfalls für ein Topsharing auf der Stufe Chefarzt bzw. Chefärztin interessieren?

K: Zuerst gilt es, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Sich also eine*n Partner*in oder jemanden im Team zu suchen, mit dem bzw. mit der die Zusammenarbeit in Form eines Topsharings passen würde. Entscheidend ist hier insbesondere, die eigenen Stärken und Schwächen zu kennen und sich konstant damit auseinander zu setzen.

I: Spezifisch für Frauen: Habt den Mut und das Vertrauen, dass es solche Möglichkeiten gibt. Traut Euch zu, dass Ihr es schaffen könnt! Und umgibt Euch mit Menschen, die Euch den Rücken stärken und sagen: Du schaffst das, ich traue Dir das zu!

 

KR: Herzlichen Dank Euch beiden für dieses Gespräch und weiterhin viel Erfolg bei Eurem Wirken als Vorbilder.

Das ganze Gespräch mit Details

Sponsoring