Ich wusste lange nicht, was ich beruflich machen sollte. Ich war sehr vielseitig begabt, malte, schrieb, rätselte, sang und philosophierte gerne. Allerdings empfand mich als „passionslos“, denn in meinem Elternhaus wurde immer von dieser „einen grossen Passion“ gesprochen, die ich aber so nicht erlebte. Beim Besuch von Berufsbildungszentren und Berufsberatungen wurde mir empfohlen, dass ich aufgrund meiner Intelligenz und intellektuellen Fähigkeiten doch an der ETH studieren sollte.
Ich empfand so ein eindrückliches Studium als heldinnenhafte Möglichkeit der Gesellschaft zu dienen. Ausserdem hatte ich gehört, dass die ETH im Vergleich zur Uni sehr verschult sei und es ganz klare Stundenpläne und Anforderungen gäbe. Sowas entsprach mir sehr, da ich Schule liebte und mich von Noten und Wettbewerb einfach motivieren liess. Gleichzeitig stiess dieser Vorschlag bei meinen Eltern auf Bewunderung und Wertschätzung, was mich zusätzlich anspornte.
Also habe ich an der ETH studiert. Mein Studium musste ich mir selber verdienen, sprich ich musste neben der ETH noch jobben, damit ich über die Runden kam. Es war eine sehr anstrengende Zeit und obwohl ich immer wieder unsicher war, ob die Entscheidung für das Studium an der ETH das Richtige war für mich sorgte mein Credo: „Was Du anfängst, machst Du auch fertig“ dafür, dass ich nicht aufgab.
Nach dem Studium habe ich ein Doktorat angehängt, wiederum nicht weil mich das Thema so wahnsinnig fasziniert hätte, sondern weil ich gehört habe, dass es eine wunderbare Zeit sei, weil man einerseits bereits Geld verdiente und man andererseits aber (im Vergleich zum Arbeitsleben nachher) genügend Zeit hätte dieses auch auszugeben. Weil mir die Betreuung von Studierenden während dem Doktorat so viel Spass gemacht hat, habe ich nach dem Doktorat erst mal ein Jahr an einer Berufsbildungsschule unterrichtet. Das ewig Gleiche runterzuleiern langweilte mich allerdings bald, darum wagte ich anschliessend dennoch den Sprung in die Industrie.
In diesem Job fühlte ich mich allerdings nie gesehen. Ich hatte nie den Eindruck, dass meine Vorgesetzten mein Potential sahen und mich fördern wollten. Stattdessen haben sie mich gebremst, klein gehalten und mir Steine in den Weg gelegt. Als mir dann nach zwei Jahren und zwei richtig grossen Erfolgen die Beförderung weiterhin verwehrt bliebt, wechselte ich zur Fachhochschule als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Da hatte ich das Glück, nach zwei Jahren Forschung ein ganz besonderes Projekt leiten zu dürfen. Dabei ging es um die Entwicklung eines neuen Studienganges mit komplett neuem Ausbildungskonzept.
Erst da habe ich (endlich!) realisiert, dass ich mich viel lieber mit Themen wie Lernkultur, Inklusion und Begleitung auf Augenhöhe auseinandersetze als mit technischen Inhalten. Als ich dann heftigst mit der gläsernen Decke und meinen Vorgesetzten zusammenstiess, hatte ich endlich den Mut mal etwas nicht fertig zu machen, was ich angefangen hatte. Ich kündigte mit sofortiger Wirkung. Die Kündigung fiel direkt mit dem Lockdown wegen Corona zusammen und so hatte ich Zeit mir in Ruhe zu überlegen, was ich in Zukunft machen wollte. Das erste Mal in meinem Leben habe ich mir erlaubt an Dingen herumzustudieren, die mir tatsächlich Spass machen, statt an solchen, die meinen Fähigkeiten entsprachen oder was die Gesellschaft von mir (vermeintlich) brauchte.
Nach einem halben Jahr überlegen, gründete ich meine Firma „Gräfin“. Anfangs war ich noch unsicher wo die Reise genau hingehen sollte. Dadurch dass ich einfach losgelegt habe, konnte ich bald besser identifizieren, was meine Zielgruppe ist. Meine Ausrichtung ist heute glasklar:
Ich bin das, was ich mir selber damals sehr gewünscht hätte, aber nirgends gefunden habe: Eine Sparring Partnerin für Frauen an der gläsernen Decke. Ich schaffe einen safe space für Frauen in Führungspositionen, damit sie in Ruhe reflektieren können was sie brauchen, wohin sie wollen und wie das geht, statt ständig im Feuerlöschmodus gefangen zu sein.
SWONET: Was fasziniert und begeistert Dich an Deiner Arbeit?
Norma Graf: Ich liebe es, dabei zuzusehen, wie die Frauen während meiner Begleitung wieder zu sich selbst werden. Wie sie wieder mutig zu sich stehen und ihre Andersartigkeit umarmen und daraus Mehrwert schaffen. Wenn sie ihren Vorgesetzten zB. klar sagen, was sie brauchen und was sie zukünftig nicht mehr tolerieren werden und mich danach voller Leichtigkeit und sprudelnder Freude anrufen. Oder wenn sie ihre Beförderung kriegen, die ihnen schon so lange zusteht, oder ihre Gehaltserhöhung durchgekriegt haben. Ich geniesse es, wenn sich zurücklehnen und sagen: „Wow, ich bin ja echt gut!“
SWONET: Wie betrachtest Du Karriere, früher und heute?
Norma Graf: Früher habe ich nie daran gedacht, was ich wirklich gerne tue. Ich habe nur daran gedacht, was ich zu bieten habe und wie das zu maximalem Nutzen für die Gesellschaft führt. Heute weiss ich, dass ich als verbissene unglückliche Wissenschaftlerin der Gesellschaft weniger bringe, als als zufriedene authentische Sparring Partnerin.
Diese Transformation konnte allerdings erst stattfinden, nach dem ich mir erlaubt habe, mich selbst zu sein. Und das wiederum war erst möglich, nachdem ich das Umfeld geändert habe, so dass das auch erwünscht war.
SWONET: Was ist Dein Rat für Berufseinsteigerinnen oder Gründerinnen?
Norma Graf: Folge nicht Deinem Intellekt sondern Deiner Freude.
Ich wollte früher beispielsweise auf keinen Fall Psychologie toll finden, weil das in unserem Elternhaus als lächerlich und klischeehaft betrachtet wurde. Stattdessen habe ich mich gezwungen, mich für Wissenschaft zu interessieren, da ich merkte, dass ich als Mädchen dadurch Bewunderung erhielt.
Die Wahrheit ist aber, dass ich heute trotz wissenschaftlichem Studium und Doktorat, viel mehr über Psychologie, Pädagogik und Lernen weiss, weil es mich interessiert.
SWONET: Wie startest Du in den Tag?
Norma Graf: Ich erwache wenn ich genug geschlafen habe, gehe mit meinem Hund spazieren und setze mich dann gemütlich mit einem Kaffee an meine Arbeit.